Mittelbayerische Zeitung, 6.8.2012
Von Michaela Schabel
 
Puccini: La Bohème, Salzburger Festspiele, 4. August 2012
 
Salzburgs neues Traumpaar
 
 
Jonas Kaufmann ist kurzfristig eingesprungen. Der Tenor schafft es gemeinsam mit Anna Netrebko, der „Bohème“ noch mehr Charisma zu verleihen.
 
Salzburg. Puccini feierte seinen Einzug in den Salzburger Festspielen grandios. Bislang als irgendwie unwürdig eingestuft und nie auf dem Spielplan gesetzt, ist „La Bohème“ seit der Premiere vor wenigen Tagen das unbestrittene Highlight der diesjährigen Salzburger Sommerspiele. Und das, obwohl Regisseur Damiano Michieletto mit Bühnenbildnerin Carla Teti eine Interpretation präsentiert, die viele Traditionalisten verstört.

Liliputanisch klein wirken die Sänger vor dem bühnengroßen, mit Tau beschlagenem Fenster mit dem riesigen Griff, verloren vor dem ebenso großen hochgezogenen Straßenplan, auf dessen dreidimensionalen Häuschen sich die Sänger platzieren, umringt vom Weihnachtseinkaufsrummel verwöhnter Kinder, umso einsamer in der kalten Stille nächtlicher Neonillumination.

Michieletto weitet die Pariser Bohèmeszene auf das globale Umfeld heutiger Jugend zwischen maßloser Konsumgier und Verlorenheit in urbaner Hässlichkeit aus. Grandios wie in einem Film zeigt das dritte Bild zwischen Straßenszenerie, verschmutztem Schnee und Frittenbude die Tristesse der Vereinsamung. Ein Partymädchen stöckelt betrunken durch den Schnee, Mimi schleppt sich durch den Schnee. Sie hustet nicht, erzählt nur librettogemäß davon. Nein, diese Mimi hat nicht die Schwindsucht, sie leidet an den Folgen eines ausschweifenden Lebens zwischen Alkohol, Nikotin und Vereinsamung. Rudolfo verduftet sich schnell, seine Männerkumpanei, durch eine Kissenschlacht ins Kindlich-Naive transportiert, ist ihm wichtiger. Mimi stirbt nicht in seinen Armen bei Kerzenromantik, sondern im grellen Tageslicht allein auf der versifften Matratze inmitten einer trashigen Bühne. Die anderen stehen abseits und sehen entsetzt zu. Die unbeschwerte Jugendzeit endet.

Das ist stimmig, mutig und funktioniert, weil Sänger und Orchester unter der Leitung von Daniele Gatti Puccini großartig interpretieren. Dass Jonas Kaufmann in der zweiten Vorstellung innerhalb einer Stunde den sängerischen Part für den indisponierten Piotr Beczala übernehmen musste, brachte keinerlei Einbußen. Leidenschaftlich durchglüht, mit charismatischem Timbre vermitteln Kaufmann und Anna Netrebko Puccini pur.

Mit dieser selbstbewussten Rocker-Mimi setzt Anna Netrebko ähnlich wie als Violetta in Verdis „La Traviata“ neue Maßstäbe und im Duett mit Jonas Kaufmann erstrahlt ein neues Sängertraumpaar. Jede Arie, jedes Duett tief ergreifend, auch ohne die übliche romantische Bohème-Atmosphäre. Erstklassig, wenn auch mit kleinerem Part, singen und agieren Nino Machaidze als Musette und Massimo Celalettin als Marcello, wunderbar geschmeidig, mit durchdringendem Schmelz in der Tiefe Carlo Columbara als Colline.

Daniele Gatti lässt mit den Wiener Philharmonikern Puccinis tonale Welt aufleuchten und integriert Jonas Kaufmann, der schlicht an der Seite singt, so selbstverständlich, als wäre alles so eingeplant. Glasklar kristallisiert Gatti die Stimmungswechsel zwischen vehementer Lebensgier, frühlingshafter Zartheit und hoffnungsloser Sehnsucht heraus.

Er begrenzt die weichen Melodielinien mit klaren Akzentuierungen, spürt dem quirligen Dialog der Instrumente nach, treibt die Tempi voran, wagt kräftige Forte und Tutti, überstrahlt von Anna Netrebkos einzigartiger Stimme, durchglüht von betörender Innigkeit in allen Tonlagen, leidenschaftlich weich und samtig.

Anna Netrebko schenkt Salzburg eine heutige Mimi, der Regisseur eine neue Sichtweise von „La Bohème“ und Paolo Fantin gelingt ein cineastischer Realismus, der regelrecht nach der Erlösung durch Puccinis leidenschaftlicher Musik lechzt.


 














 
 
  www.jkaufmann.info back top