Morgenpost, 20.5.2011
Volker Blech
Mahler: Das Lied von der Erde, Berlin, Philharmonie, 18. Mai 2011
Stille - Claudio Abbado bringt die Philharmonie zum Schweigen
 
 
Kaum war der letzte Ton verklungen, verharrte Claudio Abbado regungslos am Pult, schier unendliche Stille herrschte in der Philharmonie, dann brach ein Beifallssturm los, der so gar nicht wieder enden wollte. Was war passiert?

Galt dieses ungewöhnlich lange Schweigen dem Gedenken an den vor hundert Jahren verstorbenen Komponisten Gustav Mahler? Aus diesem Anlass fand schließlich das Sonderkonzert der Berliner Philharmoniker unter ihrem früheren Chefdirigenten statt. Aber das war kaum der Grund. Schuld an dieser unheimlichen Spannung war der 77-jährige Maestro. Seinen Mahler-Abend beherrschte stimmungsmäßig der "Tristan"-Effekt, wonach das Erklungene eine Auflösung, eine Entspannung verweigert. Bis in den Tod, in das Ersterben der Töne hinein, gilt es am Leben festzuhalten. Das mag eine Lebensweisheit sein, für die es wohl einen lebens- wie leidenserfahrenen Abbado am Pult braucht.

Schon beim eröffnenden Adagio aus der unvollendeten 10. Sinfonie, das wieder einmal formvollendet von den Philharmonikern zelebriert wurde, verweigerte Abbado jeden sich aufplusternden, selbstsüchtigen Klang. Die Musik fließt dahin ohne sich befreiende Kontraste, alles findet letztlich kontrolliert und detailbewusst zueinander. Beim folgenden "Lied von der Erde", das Mahler in einer Spätphase voller Verluste komponierte, ist es gleichsam Programm: In der altchinesischen Lyrik versuchte seinerzeit der Komponist den Widerspruch zwischen Leben und Vergehen aufzulösen. Das erste Trinklied vom Jammer der Erde stammt von Li-Tai-Po aus dem 8. Jahrhundert - der Legende nach ist der Dichter ertrunken, als er das Spiegelbild des Mondes im Fluss umarmen wollte. Aber die Texte sind letztlich nebensächlich, die Stimmfarben nutzte Mahler wie Soloinstrumente.

Abbado hat für seine Aufführung auf zwei wunderbare Sänger gesetzt, die buchstäblich das bipolare Prinzip im Konzertsaal verkörperten: Startenor Jonas Kaufmann, der Strahlemann der Oper, besang glanzvoll den hellen Mond, die Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter begab sich feinfühlig auf die Schattenseite. Das Schweigen am Ende war verdient, und die stehenden Ovationen auch.
 






 
 
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