Der Neue Merker, August/September 2010
Sieglinde Pfabigan
Wagner: Lohengrin, Bayreuth, 3. August 2010
Bayreuther Festspiele 2010 - Der Gral lebt
 
Bildunterschrift: Idealer Lohengrin - Jonas Kaufmann
Zumindest in den beiden Grals-Opern wurden den Bayreuth-Besuchern rätselvolle, geheimnisträchtige Inszenierungen geboten, die wesentliche Fragen aufwarfen - ganz im Sinne des Dichterkomponisten, aber trotz optischer Verfremdung die Grundaussage unangetastet ließen und sich vor allem der Musik verpflichtet zeigten. Jedes Ideenangebot der Regisseure Neuenfels und Herheim ist diskutierenswert. Bei „Parsifal" auch noch im 3. Jahr! Katharina Wagners „Meistersinger"-Version hingegen wird, nachdem das Schock-Erlebnis abgeklungen ist, immer langweiliger. Die „Ring"-Produktion nach Tankred Dorst bewegt sich zwischen Mythos und Realität. Sehr gelungen ist, wie im Vorjahr der „Holländer", die Kinder-Fassung von „Tannhäuser". Das sängerische Niveau hebt sich langsam wieder - da gab es keine wirklichen Fehlengagements mehr. Mit Andris Nelsons erlebte man einen sensationellen Jungdirigenten auf dem Grünen Hügel.

„LOHENGRIN" 3.8.
Allen Befürchtungen und Skandalmeldungen zum Trotz entpuppte sich diese Neuinszenierung nicht nur als hochinteressant und sinnvoll, sondern auch weitgehend ästhetisch, mit guter Personenregie und viel Entfaltungsmöglichkeit für die Sänger.

Klinisch sauber ist das Labor mit seinen weißgrauen Wänden, das im Lauf des Abends aus Ratten nach und nach Menschen macht. Geklonte - wie sie sich jeder Machthaber wünscht, um sie sich gefügig machen zu können. In diesem Fall gleichen sich sächsische, thüringische und brabantische „Edle" aufs Haar - oder viel mehr mit ihren gelben Rattenkrallen anstelle von Händen und Füßen. Damit können sie nur zappeln und trippeln, was sie eher bedauernswert und mitleiderregend als brutal und abstoßend macht - zumal, wenn sie derart schön singen. Chorleiter EBERHARD FRIEDRICH erweist sich als würdiger Nachfolger von Wilhelm Pitz und Norbert Balatsch. Ein musikalisch so feinsinnig agierender und reagierender Heerbann sichert ja schon von vornherein der Geschichte vom Wundermann mit dem Schwan die Glaubwürdigkeit. Wer mit solcher Klangschönheit, solch wohldurchdachten Worten und solch geballter Kraft besungen wird, muss ein übermenschliches Wesen sein. Dem Gralsritter wird dankenswerterweise, wie die Musik es vorgibt, seine Mittelpunktstellung und sein Sonderstatus belassen. Die Rattenfrauen, die Elsas Gang zum Münster in roten, orangen und hellgrünen Cocktailkleidern begleiten, kommen trotz ihrer langen Rattenschwänze, die von den Herren liebkost werden, überaus diszipliniert in Zweierreihen daher, die Rattenkinder, deren einige sich etwas zu spät einreihen, werden freundlich belächelt. Nur der scheußliche Embryo-Knabe, der am Ende der Oper einem riesigen Schwanenei entsteigt, seine Nabelschnur zerreißt und wütend von sich schleudert, erweckt keine Sympathien, sondern versaut das Finale. Die Erklärung, dass das eine im Laboratorium misslungene neue Menschenkreation ist, ändert nichts an der ungustiösen Tatsache. Irgendwo muss ja HANS NEUENFELS ausufern, um seinem Ruf als Neuerer um jeden Preis gerecht zu werden - ein Schicksal, das er mit Konwitschny teilt, der auch in seinen besten Arbeiten Schlagzeilen-trächtige Fehltritte nicht unterlassen kann. Wie gut, wenn man Gelegenheit hat, sich solchermaßen in Verruf geratende Produktionen selber anzuschauen.

Freilich fragt man sich: Warum ausgerechnet diese Tiere? Weil es „die" Labortiere sind? Das „Klonen" ist ja vielleicht nicht die einzige Assoziation. Sind Ratten besonders gut dressierbar, vermehrbar, handhabbar. . .Warum nicht Schafe, Ameisen, Bienen...!? Möglicherweise sind Chorsänger als Ratten am effektvollsten kostümierbar.

Auf ganz andere Weise als Claus Guths Wiener „Tannhäuser" ist der neue Bayreuther „Lohengrin" einer Traumwelt verpflichtet. Dort wie da wird das Mittelalter ausgeklammert - keine Burg, keine Rüstungen, kein Waffengeklirr, statt der Helme seltsam gitterartige schwarzmetallene Kopfbedeckungen. Nur im Zweikampf zwischen Lohengrin und Telramund kommen Schwerter zum Einsatz - Theaterrequisiten. Auch alle sonstigen Aktionen finden real statt. Ein etwa lebensgroßer Schwan wird als Zugtier des Gralsritters von Ratten herein getragen. Am Ende des 1. Akts bleibt ein solcher gerupfter Vogel über der Szene hängen. Im 2. Aufzug entsteigt Elsa einem Glaskubus und streichelt einen Porzellansschwan, dem Ortrud den Hals brechen will, aber daran von Lohengrin gehindert wird. Ratten transportieren das dunkle Paar von der Bühne ab.

Für die Brautgemachszene wird aus dem Hintergrund ein weiß überzogenes Doppelbett auf die Bühne gerollt, das nach Elsas fataler Frage wieder unseren Blicken entgleitet. Lohengrin und Elsa, zunächst von einem sichtbaren Brautchor, bestehend aus Rattenpaaren, besungen, benehmen sich dann als normale Menschen: Er nähert sich ihr mit ganz natürlichem männlichem Begehren, sie erwehrt sich dieser Annäherungen, weil sie ja erst wissen will, mit wem sie es zu tun hat.

Dass nach dem Erscheinen des embryonalen Gottfried, nach Ortruds und Elsas Verschwinden und dem Abgang der zu Menschen mutierten Ratten, Lohengrin allein auf der Bühne zurückbleibt, macht Sinn: Die Frage, was mit ihm nun geschieht, bleibt offen - wie ja auch der musikalische Schluss der Oper. Die Lichtgestaltung durch FRANCK EVIN ist nicht gerade die inspirierteste, hat aber ein großes Verdienst: die Sänger sind immer deutlich zu sehen.

Filmeinspielungen von unterschiedlicher Notwendigkeit ergänzen das optische Angebot. Hauptdarsteller sind auch da die Ratten. Rote, grüne und orangefarbige gehen aufeinander los. Zu der Chorszene „für deutsches Land das deutsche Schwert" flüchtet ein Heer von tausenden Ratten in panischer Angst vor einem rasenden Kampfhund, von dem schließlich das Skelett gezeigt wird, das langsam zerbröselt. Das geht unter die Haut. Die insgesamt recht dezent gestaltete Bühne (REINHARD VON DER THANNEN zeichnet für die gesamte Ausstattung verantwortlich) lässt Raum für das Hauptereignis des Abends - die musikalische Wiedergabe.

Man hatte den Eindruck, ANDRIS NELSONS habe die Produktion entscheidend mitgestaltet, denn seine sensible, gänzlich unplakative „Lohengrin"-Interpretation hat jugendlichen Schwung, Leichtigkeit, Transparenz und be geistert vor allem durch sein liebevolles Ausmusizieren aller Gefühle, die Richard Wagner seinen Geschöpfen mit auf den Lebensweg gegeben hat. Ich schreibe hier, wohlgemerkt, über die 1. Reprise, nicht über die im Radio übertragene Premiere, in der es noch manche Unausgeglichenheit zu hören gab. Das Vorspiel zum 1. Akt war mir auch in der entspannteren 2. Vorstellung in seiner versuchten Entrücktheit klanglich zu wenig tragfähig, aber alles Folgende hatte eine ganz persönliche und doch Wagner-gerechte „Sprache". Die szenisch nicht realisierte historische Rahmenhandlung, von Wagner im 10. Jh. angesetzt, wich in dieser Aufführung auch musikalisch einer Utopie oder, wenn man will, einer Traumhandlung, in der Tierisches und Menschliches auf seltsam wunderbare Weise Gestalt annahm. Der Ritter, den Elsa herbeiträumt, naht mit beinah zärtlichem musikalischem Gestus, „die Krone trage er" wird zur vorweggenommenen Liebeserklärung. Alles Trompetengeschmetter, das die Anti-Nationalisten auf den Plan rufen könnte, erklingt mit Noblesse, gekämpft wird „mit feiner Klinge", „ritterlich" im positiven Sinn, ein Verhalten, wie es von einem „gentleman" heute noch erwartet wird. Die breiten lyrischen Bögen (Elsas Brautzug!) werden nicht zelebriert, sondern von den Instrumenten „gesungen", ebenso wie die vehementen dramatischen Akzente, etwa in der Szene Telramund-Ortrud, die das Bühnengeschehen vorwärts treiben und Entscheidungen herbeiführen. Zügig, ohne unnötige Härten, spielt sich der Zweikampf Lohengrin-Telramund ab, mit kompaktem Klang schlägt uns das Orchester bei Friedrichs Verzweiflungsausbrüchen und Ortruds Rachetiraden in Bann, mysteriös, vom ff ins pp zurückgenommen, klingt der düstere Zwiegesang „Der Rache Werk", „In Früh'n versammelt uns der Ruf begeistert durch die freudige Bewegtheit, wobei aber auch hier ein gewisser „Traumton" gewahrt wird. Der Zauber wirkt weiter... „Heil ihm" hat nichts mit fanatischer Huldigung eines Führers zu tun, statt „zum Führer sei er euch ernannt!' wird „Schützer" gesungen, die Passage von „des Ostens Horden", die „nimmer nach Deutschland ziehen" sollen, ist gestrichen. „Lohengrin" ist in dieser Wiedergabe - wie es sein soll! - kein Drama der Gewalt. Die Gralserzählung endet musikalisch nicht triumphierend, sondern die weich intonierenden Trompeten und Posaunen wahren das Geheimnis des Grals.

In diesen musikalische „Konzept" sind die Sänger optimal integriert. JONAS KAUFMANN ist, auch in weißem Hemd und schwarzer Hose, ohne ritterliches Zubehör, der „Wundermann" von Anbeginn. Wie aus einer anderen Welt klingt sein Dank an den Schwan, in einem mystischen Piano, das seinem dunkel timbrierten Tenor besonders gut ansteht, in ruhigem Gleichmaß durchgehalten. Umso überwältigender sein Eintritt in die Wirklichkeit: „Heil König Heinrich!" hat eine derartige männlich-tenorale Strahlkraft, dass nicht nur Elsa angesichts von so viel vokalem Heldentum ausflippt! Aber Kaufmann bleibt ein tragischer Held. Das ganz verhalten ausgesprochene Frageverbot, auch bei der laut stärkeren Wiederholung, enthält großes Bedauern über diese Notwendigkeit. Bezwingend singt er „Komm, lass in Freude dort diese Tränen fließen!", aber dann „In deiner Hand, in deiner Treu" mit weichem, unsäglich traurigem Ton, wissend, was kommen wird. Alle möglichen stimmlichen Nuancen kommen im Brautgemach zum Einsatz. Er agiert da ganz menschlich als ein Liebender, der - leider psychologisch ungeschickt - alle Mittel einsetzt, um die Frau seiner Wahl fraglos für sich zu gewinnen bzw. sich zu erhalten. „Oh Elsa, was hast du mir angetan" bringt allen Schmerz dieser Welt zum Ausdruck. Der nach dem abermals entrückten, aber nun noch viel traurigeren Schwanenlied in gedämpftem blauem Licht einsam auf der Bühne zurückbleibende Held berührt uns gerade dadurch menschlich ganz besonders. Eine großartige Leistung des hochintelligenten Sängers! ANNETTE DASCH, in weißem Hosenanzug mit Pfeilen im Rücken und an der Brust, die Lohengrin ihr dann einen nach dem anderen herauszieht, unter schmerzlichen Zuckungen ihrerseits, hat für die Elsa den passenden Unschuldssopran. Insbesondere im 1. Akt gerät die Stimme jedoch an ihre Grenzen, erkennbar an einem Vibrato, das bei zu viel Krafteinsatz hörbar wird. Im weiteren Verlauf des Abends kann sie sich freisingen und im Brautgemach die Stimme aufblühen lassen. Mehr Farbe wäre ihr dennoch zu wünschen. Im pompösen weißen Kleid sieht sie im 2. Aufzug sehr gut aus. Dass das frisch getraute, nunmehr getrennte Paar im 3. Akt ganz in Schwarz auftritt, während die vorher „schwarze" Ortrud in Weiß daherkommt, kann als symbolisch akzeptiert werden, tut seiner Schönheit aber natürlich Abbruch.

Der fulminanten, jedoch mit unschöner Stimme mehr schreienden als singenden Ortrud von EVELYN HERLITZIUS steht als Bühnengemahl mit HANS JOACHIM KETELSEN (statt des vorgesehenen Lucio Gallo) ein bewährter Wagner-Recke mit exzellenter Diktion (aus der legendären Dresdner Schule!), voll unforcierter Kraft, vokal ausgeglichen, mit blendender Höhe, gegenüber. In ihren glänzenden Ledergewändern machen die beiden auch optisch Eindruck und dürfen sich rollengerecht auf der Bühne in Rage spielen. Die 4 „Edlen" sind es auch stimmlich: STERFAN HEIBACH, WILLEM VAN DER HEYDEN, VAN DER HEYDEN, RAINER ZAUN und CHRISTIAN TSCHELEBIEW.

Eine weit führendere Rolle als gewohnt darf der Heerrufer in dieser Inszenierung übernehmen. Mit wunderschöner, bestens fokussierter Baritonstimme und dominierender physischer Präsenz verkündet SAMUEL YOUN (mit zu Berge stehenden Haaren) seine Botschaften in vorbildlich klarem Deutsch. Als wichtigtuerischer „Spruchsprecher" ist er offenbar dazu engagiert, den (Ratten) Heeren alle wichtigen Anweisungen zu geben, für die der weit noblere König nicht zuständig ist. Während alle anderen Hauptpersonen im besten Sinn traditionell geführt sind, hat der Regisseur hier umdisponiert. König Heinrich ist nicht der selbstsichere Herrscher, der fest in sich ruhend souverän seine politischen und humanen Entscheidungen trifft (wie ihn an gleicher Stelle zuletzt Manfred Schenk so überzeugend verkörperte), sondern in Gestalt von GEORG ZEPPENFELD ein hagerer, schwarz gekleideter, von Zweifeln geplagter Mann, der nicht einfach irgendwelche Anordnungen geben will. Die Krone, die ihm das Schicksal aufs haarlose Haupt gesetzt hat, nimmt er auch mal ab, zerknautscht sie oder wirft sie weg. Einmal stolpert er sogar und fällt zu Boden. Auf einen Bildschirm wird eine Schrift projiziert, dass er die Wahrheit zu verkünden gedenkt. Davon allerdings kündet auch der noble Bass des relativ jungen Sängers. Er besitzt die geforderte stählerne Höhe und die sonore Tiefe und intoniert seine gewichtigen Aussagen in bestem kantablem Legato, das dem deutschen König letztlich doch die Sonderstellung sichert, die Wagner ihm zugedacht hat. Das Königsgebet „Mein Herr und Gott, nun ruf ich dich`; mit solcher Überzeugung gesungen, wird nicht von ungefähr mit der größten Selbstverständlichkeit vom gesamten Vokalensemble übernommen. Auf diesen vorzüglichen deutschen Bassisten hat Bayreuth gewartet.

Man kann sich den neuen Bayreuther „Lohengrin" also getrost anschauen und anhören.



 






 
 
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