Fränkischer Tag,  27. Juli 2010
Monika Beer
Wagner: Lohengrin, Bayreuth, 25. Juli 2010
Wo das Erhabene aufs Lächerliche trifft
 
Hans Neuenfels und sein Ausstatter Reinhard von der Thannen versetzen Wagners "Lohengrin" in ein Laboratorium. Die ungewöhnliche Versuchsanordnung glückt unter Andris Nelsons auch musikalisch.
Wunder-volles Bayreuth! Nach der an Schwänen und vor allem an Ratten reichen "Lohengrin"-Premiere, bei der Fahrt vom Grünen Hügel hinab in die Stadt, ist mir auf dem Hohenzollernring eine leibhaftige Ratte begegnet. Er ist schon ein Hundling, der Neuenfels, dachte ich bei mir. Dass er selbst das gedreht hat! Dass das Versuchslabor, das er auf der Bühne des Festspielhauses aufgeschlagen hat, nicht nur eine ganz eigene, faszinierende, unterhaltsame, erheiternde, aber auch tief gehende und verstörende Theaterrealität ist, sondern fortwirkt, mitten in unser Leben hinein.

Eine fesselnde Interpretation

Was im Klartext heißt: Dem 69-jährigen Bayreuth-Debütanten Hans Neuenfels ist mit der "Lohengrin"-Neuinszenierung etwas geglückt, das die großteils in künstlerische Beliebigkeit und Zweitklassigkeit abgerutschten Festspiele wieder ein Stück nach vorne bringt - hin zu jener Ausnahmestellung, die ihr Gründer Richard Wagner im Sinn hatte. Die Auseinandersetzung mit dieser neuen Interpretation lohnt sich. Sie kann uns, wie Wagner-Kenner Holger Noltze erst jüngst beschwor, "ein wenig verrückt machen und uns erzählen, wovon wir noch keine Ahnung hatten."

Natürlich hatte die Wagnerwelt bisher keine Ahnung davon, dass im "Lohengrin" Ratten eine wichtige Rolle spielen. Woher auch? Im Libretto ist viel vom Schwan die Rede, mit dem der Gralsritter Lohengrin ans Land geschwommen kommt. Das brabantische Volk, die Heerscharen, der versammelte Adel aus Brabant und Sachsen, sie alle hat Ausstatter Reinhard von der Thannen als Versuchskaninchen, pardon, Ratten verkleidet: mit Krallenfüßen und Händen in XXL, abnehmbaren Schwänzen, Köpfen und durchnummerierten, bestimmt schweißtreibenden Tierkörperkostümen.

Ausgerechnet Lohengrin ist ganz normal

Erst im Schlussakt mutieren die Tiere zu lackbeschuhten und futuristisch Uniformierten, die nichts Gutes verheißen. Zuvor scheinen nur das keimfrei verhüllte Laborpersonal und die Hauptakteure "normale" Menschen zu sein. Obwohl, genau besehen, bleibt nur der traurige Titelheld übrig als einer, der einem so, wie er ist, auf der Straße begegnen könnte.
In dem klinisch reinen und bis in den letzten Winkel von Franck Evin virtuos ausgeleuchteten, sehr sängerfreundlich angelegten Laborraum steht Lohengrin (bravourös: Jonas Kaufmann) als Erster auf dem Plan, schiebt mühevoll eine Breitwand nach hinten und hat doch die Sisyphusarbeit erst vor sich, wenn er eintritt in das Experiment, in dem es um Liebe, Vertrauen und existenzielle Sehnsüchte, um Selbst- und Fremdbestimmung geht.

Schon die Figuren des 1. Akts zeigen Blessuren, ihre Schlagseiten. Dem Heerrufer (Samuel Youn) mit überlangen Frackflügeln stehen die Haare zu Berge, der hagere König (sonor und subtil: Georg Zeppenfeld) mit seiner schwarzen Krone fällt öfter mal um und aus der Rolle, Telramund (solide: Hans-Joachim Ketelson) und Ortrud (schrill: Evelyn Herlitzius) wirken in metallischem Grau von Beginn an gefährlich, und Elsa (ausbaufähig: Annette Dasch) tritt in ihrem pfeilgespickten weißen Soldatenmantel auf wie eine Mischung aus Schwan und Heiligem Sebastian.

Rätsel und Fingerzeige

Was die Figuren miteinander erleben, erschließt sich im 1. Akt noch gar nicht. Der Regisseur versagt sich - ein paar Ausnahmen wie der gerupfte Schwan am ersten Aktschluss bestätigen die Regel - allzu deutliche Fingerzeige, richtet in präziser, geschäftiger und zum Teil hinreißend tänzerischer Personen- und Chorregie seine vielschichtige Versuchsanordnung ein, die allen Beteiligten und dem Publikum zunächst nur Rätsel aufgibt. Comicsequenzen sowie bildnerische und szenische Details liefern unaufdringlich Erklärungsmuster. So possierlich die Ratten auch sein können, irgendwann fühlt man sich doch an Art Spiegelmans "Maus" erinnert - und damit nicht nur an die Wagnerrezeption der Nazis, sondern auch an Richard Wagners Antisemitismus.

Auf derlei unerwartete Subtexte kann man immer wieder stoßen. Und allmählich, wenn die Mutationen der grauen, schwarzen, weißen und rosigen, plötzlich wie aus dem Ei gepellten Ratten erst noch befremdetes, dann befreiendes Gelächter im Zuschauerraum auslösen, begreift man: Vom Erhabenen zum Lächerlichen braucht es auch bei Wagner manchmal nur einen kleinen Schritt - umgekehrt ebenso. Wer da lacht, lacht letztlich über sich selbst. Denn natürlich sind wir alle Ratten.

"Lohengrin"-Wunder aus dem Graben

Dass das mit der "Lohengrin"-Musik wunderbar zusammengeht, ist eine der schönsten neuen Wagnererfahrungen für Bayreuth. Das neue "Lohengrin"-Wunder hat übrigens mehrere Väter, und der Jüngste imponiert mir fast am meisten. Denn der erst 31-jährige Andris Nelsons meisterte auf Anhieb nicht nur die für Dirigenten bei großen Choropern umso heiklere Akustik. Er wirft sich mit Verve in die Ensemble- und Chorszenen, hat aber auch ein unglaubliches Fingerspitzengefühl für die Lyrismen, die er explizit mit Jonas Kaufmann auf geradezu unerhörte, magische Weise auskostet. Das ist der leiseste, fragilste, zarteste Wagner, den ich je gehört habe.

Und noch ein kleines Wunder offeriert die Produktion. Im 2. Akt, nach der szenisch dichten, ästhetisch bezwingenden 1. Szene des dunklen Widersacherpaars kommt (ganz ohne Nebengeräusche: ein Lob der Technik!) ein Elsa-Zimmer aus Plexiglas angefahren, in dem sich, für viele sichtbar, vom Orchestergraben her Andris Nelsons spiegelt. Im weißen T-Shirt und mit seinen ausholenden Gesten wirkt er wie noch ein Schwan, der zum Fliegen anhebt.

Ein rabenschwarzer Schluss

Im Brautgemach, in dem sich die romantisch glotzende Rattenschar wie im Kino platziert hatte, bevor sie weggescheucht wird, geht es dann wirklich ans Eingemachte. Elsa und Lohengrin begegnen sich zwar in unschuldsweißen Unisex-Schlafanzügen, aber sie sind alles anders als gleichgeschaltet. Der Unterschied, ja der Kampf der Geschlechter wird hier mit subtilen, aber nichtsdestoweniger scharfen, schmerzenden Waffen ausgetragen. Was Elsa will und was Lohengrin wollte, dazwischen liegen Welten.

Der Schluss mit dem vermutlich genmanipulierten, in einem Ei ausgebrüteten, seine Nabelschnur zerreißenden Gottfried-Homunkulus ist rabenschwarz und todtraurig. Leider auch sängerisch. Denn die stimmbrachiale Ortrud macht alles nieder. Die Festspielleiterinnen brauchen nicht, wie sie es bei den obligatorischen Premierenbuhs getan haben, Provokationsaltmeister Neuenfels demonstrativ zur Seite zu springen. Sie sollten lieber mehr dafür tun, dass alle Solisten an die sängerdarstellerisch große Klasse von Jonas Kaufmann wenigstens heranreichen.
 






 
 
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