Die Welt, 23. Dezember 2010
Manuel Brug
Beethoven: Fidelio, Bayerische Staatsoper, 21. Dezember 2010
Beethoven, zu Tode gedacht
 
Calixto Bieito verstört München mit einem blutleeren Thesen-"Fidelio"
 
Der katalanische Regisseur, der als Bad Boy des Musiktheaters gilt, hatte um die Staatsoper bisher einen Bogen gemacht

Der Lichtblick leuchtet im allerdunkelsten Kerker. Wie ein Pfeil schießt immer heller strahlend und immer lauter Jonas Kaufmanns "Gott", aus tiefster Tenorkehle bis zur Gaumendecke emporsteigend, ins Münchner Nationaltheater. Und dann weiter: "Welch Dunkel hier! O grauenvolle Stille!" Das zieht sich gewaltig, der sehr merkwürdige Dirigent will es so. Doch der Star ist ein vorbildlicher, atemsatter Florestan mit einem nicht zu verleugnenden Hang zum Knödeln. Eine gesunde Stimme in einem theatralisch geschundenen Körper. Die Jahre im Staatsgefängnis liegen ihm ausdrucksstark im Hals, aber das heldische Aufbegehren hat er sich standhaft bewahrt. Ansonsten krümmt er sich schön bildhaft im blauen Pyjama, kämmt als tickhafte Übersprungshaltung die sonst von vielen Damen wegen ihrer schönen Locken verehrten Haare, zieht sich selbst - "zur Freiheit ins himmlische Reich" - an einer Stange empor und wird viel herumgeschleift. In "Fidelio" macht man als männliche Hauptrolle eine Menge mit.

Jonas Kaufmann singt zwar etwa nur 25 Minuten, aber die immerhin waren es wert, gehört zu werden, trotz der Torpedos aus dem Orchestergraben. Ebenso die paar Takte des ersten Gefangenen, die der junge Dean Power mit zarter Kraft intonierte.

So ungefähr lautet die musikalische Habenseite der Neuinszenierung von Beethovens hochproblematischem Thesenwerk an der Bayerischen Staatsoper. Schon das lyrische Paar, Kerkermeistertochter Marzelline (Laura Tatulescu), vergeblich in Fidelio verliebt, der eigentlich Leonore heißt, eine Frau ist und ihren Mann Florestan sucht, und Pförtner Jaquino (Jussi Myllys), vergeblich in Marzelline verliebt, waren vokal austauschbar harmlos und textlich unverständlich. Es ist noch nicht so lange her, da wurde an diesem Haus in einer "Fidelio"-Premiere die kranke Marzelline der Helen Donath durch Lucia Popp ersetzt.

Dafür schmiert sich jetzt Jaquino Liebesschwüre auf die nackte Brust, während Marzelline höchst eindrucksvoll auf hohen Ansätzen noch höhere Leitern erklimmt und sich manisch die Lippen nachmalt, bis sie einer Clownsfratze gleichen. Da ist es nur folgerichtig, dass der eigentlich Erlösung bringende Minister (ein ordentlicher Steven Humes) in der Grinsemaske von Heath Ledgers fatalem "Batman"-Joker über die Generalmusikdirektorenlogenbrüstung springt und Florestan abknallt. Was ein echter Heldentenor ist, der singt natürlich ungebrochen weiter.
Anzeige

Keinen guten Basstag hatte der an seinen geliebten Geldkoffer gekettete Kerkermeister Rocco des trocken röhrenden Franz-Josef Selig. Harmlos nett arbeitete sich der böse Gefängnisdirektor Pizarro des Wolfgang Koch durch seine Arie, ein Zyniker mit Hang zur Selbstverstümmelung. Der schlitzte sich die Stirn wie einst Rainald Goetz während seines furiosen Auftritts beim Bachmann-Preis, später wurde er von Leonore mit Gin und Säure übergossen. Die wurde von Anja Kampe mit Größe und sympathischer Ehrlichkeit gesungen, aber auch mit rissigen Schärfen im kühlen Sopran und Koloraturfolgen als Hindernisläufen. Kein Wunder, dass Claudio Abbado sie für seine neue, noch nicht veröffentlichte "Fidelio"-Einspielung mit Kaufmann durch Nina Stemme ersetzt hat.

Neben dem Tenor der Stunde also ein durchschnittliches Sängerensemble. Das wäre zu verschmerzen gewesen, wenn nicht der kaum noch Ernst zu nehmende Daniele Gatti einen so konfusen, lähmend langweiligen, verstockten Abend dirigiert hätte. Schon anfangs, in "Leonore III", ausgerechnet der längsten aller vier möglichen "Fidelio"-Ouvertüren, schlingerte Gatti von einem Tempounglück ins nächste. Da klapperten die Einsätze, und das Staatsorchester klang alles andere als motiviert. Erst zerfaserte der Streicherteppich, dann holperte es gewaltig im verhetzten Geschwindmarsch - so ging es unmotiviert weiter, bis am Ende sogar der Chor ausbrach. Nach der Pause wurde Gatti massiv ausgebuht, am Schluss traute er sich feige nie allein vor den Vorhang.

Blödes Singspiel, Hohelied der Gattenliebe, Tyrannenanklage, Freiheitsode, Pathosoratorium Menschheitsutopie - natürlich ist "Fidelio" schwer. Aber Beethoven glaubte fest an sein mühsam an der guten Absicht tragendes Musiktheater-Schmerzenskind. Bei Calixto Bieito ist man sich nicht so sicher. Seit neun Jahren Bad Boy des Musiktheaters, hatte der Katalane in München zwar mit seinem kontroversen Salzburger Schauspiel-"Macbeth" gastiert, aber bisher um die Staatsoper stets einen Bogen gemacht; jetzt wurde er ersehnt und machte gleichzeitig erzittern. Auf jeden Fall sollte er für einen Skandal sorgen, deshalb wohl meinte manche Zeitung, erst noch eine Bieito-Gebrauchsanweisung geben zu müssen. Das hätte man sich sparen können, denn der Skandal fand nicht statt. Bieito, in jedem, auch dem krudesten Fall, ein bekennender Regisseur von Menschen, führte seltsam blutleere Puppen vor, verschanzte sich hinter Maschinen und Konzepten.

Natürlich inszeniert heute kein Regisseur mehr "Fidelio" vom Blatt. Die DDR der Vorwendezeit bot vielleicht die letzte politische Legitimation für das oft auch missbrauchte Stück. Das Libretto neu schreiben zu lassen, von Hans Magnus Enzensberger, Walter Jens, Edward Said oder Martin Mosebach, hat zudem Tradition. Konform zu den hier komplett fehlenden Sprechtexten von Sonnleithner und Treitschke, die in München durch minimale literarische Labyrinth-Variationen von Jorge Luis Borges und Todesahnungen von Cormac McCarthy ersetzt sind, ist Rebecca Ringsts Einheitsbühnenbild ein riesiger, gläsernkalt und neonbleich schimmernder Irrgarten aus Gerüsten - mehr Installation oder Klettergerät als Kulisse -, der zum zweiten Teil langatmig aus der Senkrechten in die Wagrechte kippt. Er wird schwerfällig erklommen, macht viel Lärm, zudem rauben beständig einklickende Sicherungsseile jede Illusion von Gefährlichkeit. Die Einbahnstraße als Metapher, der Mensch als isolierte Monade in einem Gefängnis, das sein Kopf und seine Ideologien sind. So etwas erweist sich als Kopftheater, atmet kein dramatisches Leben. Natürlich bleibt das Instrument der Macht bedrohlich stehen, das Gefängnis überdauert jeden Befreiungsjubel.

Momente der Erschütterung in diesem gedankenkalten "Fidelio" liefert lediglich eine werkfremde Einlage vor dem Finale, an der Stelle, an der seit Mahler oft die dritte Leonoren-Ouvertüre eingefügt wird. Aus der Höhe schweben in drei Käfigen vier Streicher herab, spielen aus Beethovens Opus 132 den im Unisono klagenden langsamen Satz, molto adagio, im fremden, altkirchlich lydischen Modus, mit dem Zusatz "Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit": ein untröstliches Quartett auf das Ende der Zeit. Doch als Anlass des Angerührtseins vermag es diesen zaudernden, ewig nach dem großen Bildmoment greifenden Opernabend nicht zu retten.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
  www.jkaufmann.info back top