Neue Zürcher Zeitung, 23. Dezember 2010
Peter Hagmann
Beethoven: Fidelio, Bayerische Staatsoper, 21. Dezember 2010
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Die Gesellschaft als Gefängnis – Beethovens «Fidelio» mit Calixto Bieito in München
 
Diesmal darf es ein Labyrinth sein. Das hat, wenn Ludwig van Beethovens Oper «Fidelio» angesagt ist, seine Stimmigkeit. Herr Rocco mag tatsächlich einen Gefängnispalast verwalten, und Leonore, die ihre Weiblichkeit abgelegt und sich als Fidelio in den Betrieb eingeschlichen hat, mag auf der Suche nach ihrem eingekerkerten Gatten Florestan wirklich durch unendliche Gänge eilen. An der Bayerischen Staatsoper München kann das Labyrinth aber nicht spektakulär genug sein. Es erstreckt sich nicht etwa in die Tiefe der Bühne, sondern füllt, in der Metall- und Plexiglas-Konstruktion von Rebecca Ringst, die ganze Höhe des Bühnenportals. Da kann nach Massen gekraxelt werden, und weil derlei Übungen nicht ohne Gefahr sind, tragen die von Ingo Krügler nach heutiger Manier gekleideten Darsteller allesamt Gürtel, Kabel und Karabinerhaken mit sich. Immer wieder schnallen sie sich an, wenn sie in luftiger Höh ihren Beschäftigungen nachgehen. Auch das ist nicht ganz falsch: das von uns selbst geschaffene gesellschaftliche System als Gefängnis. Und doch ist es etwas lächerlich.

Denn so gewaltig sich die Dekoration aufplustert, so schmalbrüstig ist, im Grossen und Ganzen, der künstlerische Ertrag der jüngsten Produktion im Münchner Nationaltheater. «Fidelio» hebt hier nicht mit der «Fidelio»-Ouvertüre an, sondern mit der «Leonoren»-Ouvertüre Nr. 3, die für eine andere Fassung des Werks geschrieben ist. Warum das? Sie ist nicht besser und passt nicht besser als die originale Ouvertüre – im Gegenteil, sie führt einen verqueren Wechsel der Tonart ein, wenn es dann zur ersten Nummer geht, dem Duett von Marzelline und Jaquino. Störend sind überdies die sportlichen Exerzitien, die von den Figuranten zur Ouvertüre absolviert werden, denn sie sind naturgemäss mit Geräusch verbunden. Und mit einigem Erstaunen verfolgt man, wie dumpf, fahrig und konturlos die mächtige Musik Beethovens beim Bayerischen Staatsorchester klingt; an der Premiere erhielt der Dirigent Daniele Gatti, als er nach der Pause ans Pult trat, die Quittung in Form eines ziemlich geschlossenen Buhkonzerts.

Gatti hat auch hingenommen, dass zu dem wunderbar verinnerlichten Quartett am Anfang, einem frühen Höhepunkt der Oper, die Teile des riesigen Gerüsts auf der Bühne hin und her bewegt werden. Und dass, was nun wirklich vollkommen unnötig ist, vor dem zweiten Finale ein Streichquartett in drei vergitterten Käfigen aus dem Schnürboden heruntergelassen wird, um mehr schlecht als recht einen Teil aus Beethovens Streichquartett in a-Moll, op. 132, zum Besten zu geben. Nicht übel passt dazu der Umstand, dass die Dialoge der Oper – nun ja, sie wirken etwas gestrig, aber damit lässt sich wenn nicht leben, so doch umgehen – gestrichen und durch innere Monologe aus den Federn von Jorge Luis Borges und Cormac McCarthy ersetzt worden sind. Das Skizzieren einer Handlung, das Vorangehen in der Zeit, das Schaffen eines dramaturgischen Zusammenhangs – all das ist somit gelöscht. «Fidelio» wirkt hier denn auch nicht wie ein Werk des Musiktheaters, sondern wie ein Stück Theater mit Musik und beinah wie einer jener ehedem auf Langspielplatten erhältlichen Querschnitte mit den schönsten Arien einer Oper.

Seinen besten Moment erlebt das Konzept, wenn davon denn die Rede sein kann, nach der Pause. Vor der enormen Auftrittsarie des Florestan wird der vordere Teil des riesigen Gerüsts hydraulisch von der Vertikale in die Horizontale gebracht, wozu die Figuranten aus dem Himmel herunterschweben. Nun gut, das Spektakel war schon immer Teil der Oper, und für die Flugmaschinen gilt dasselbe. Was hier aber gründlich fehlt, ist die Einbindung, die Begründung des Effekts, die Idee. Zu «Fidelio» scheint dem Regisseur Calixto Bieito rein gar nichts eingefallen zu sein. Gewiss, als Marzelline darf Laura Tatulescu Bein zeigen, wie es bei dem Opern-Provokateur vom Dienst dazugehört. Dass sie, obwohl Tochter des Gefängnisdirektors und somit draussen, nicht weniger gefangen ist als die drinnen und dass sich das in psychotischen Ticks äussert – das reicht noch nicht. Die Figur bleibt, auch musikalisch, ebenso farblos wie die des armen Jaquino, wobei sich Jussi Myllys immerhin als versierter Turner erweist. Wer aber, zum Beispiel, ist Rocco? Franz-Josef Selig nimmt sich seiner Partie routiniert an, darf jedoch die Charakterzüge dieses anpasserischen Funktionärs nicht herzeigen.

Die Brisanz – nur gestreift

Warum aber bringt Rocco seinem Assistenten, bevor sie zu Florestan heruntersteigen, einen Kanister mit, vermutlich, Salzsäure? Hat er am Ende längst gemeinsame Sache gemacht mit Fidelio? Es ist jedenfalls dieses Gebräu, mit dem Leonore im entscheidenden Moment den grausamen Pizarro zur Strecke bringt – und da ist einer der Momente, da die Produktion ein wenig mit der Brisanz des Werks bekannt macht: dank Anja Kampe, die als Fidelio/Leonore nicht nur ihre Arien blendend meistert, sondern auch dem etwas gestressten Pizarro von Wolfgang Koch sehr aufrecht gegenübertritt. Das Glanzlicht des Abends bildet indes Jonas Kaufmann als Florestan, der «Gott», das erste Wort seiner Auftrittsarie, auf dem hohen G in wunderbarem Piano ansetzt und unter einer eigenwilligen Fermate zu einem gewaltigen Aufschrei steigert. Der aus München stammende Tenor mit seiner eigenartig in der Tiefe verankerten Stimme hat hier einen grossen Auftritt. Nicht nur bei dieser geradezu idealen Auslegung der heimlichen Titelrolle denkt man an die halbszenische Aufführung anlässlich der Eröffnung des Lucerne Festival im Sommer 2010 zurück. Sie stand ganz und gar im Zeichen der Musik.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 
 
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