Von allen hölzernen Libretti der Operngeschichte hat „Fidelio“
eins der Wortwurmstichigsten abbekommen. Rocco: „Ich mach dich
zu meinem Tochermann!“ Leonore: „Wirst du es bald tun, lieber
Vater?“ Rocco: „Ihr habt euch doch von Herzen lieb, nicht wahr?“
Regelmäßig dimmt der Librettist Joseph Sonnleithner Beethovens
feurigen Schein, bis das Revolutionäre des Stücks kaum noch
flackert.
Dem mit raubtierhaftem Theaterinstinkt
ausgestatteten Regisseur Calixto Bieito ist das natürlich nicht
entgangen. Deshalb lässt er an der Bayerischen Staatsoper die
E-Dur-Overtüre weg und mit Jorge Luis Borges beginnen. Leonore,
gerade angelangt zur Rettung ihres eingekerkerten Mannes,
rezitiert aus Borges’ Gedicht „Labyrinth“: „Es wird nie eine Tür
geben.
Du bist im Innern, das Kastell umschließt den
Kosmos…“ In anderen Worten: Jeder ist die Kopfgeburt des anderen
und geht einen einsamen Weg. Und der Weg endet nie. Soweit die
Grundthese.
Bieito dekliniert sie an jeder einzelnen
Figur durch, die alle etwas Unbedingtes, ja Manisches haben,
aber auch etwas Aussichtsloses. Marzelline ist eine junge
Lebefrau, die sich ständig tragisch überschminkt. Jaquino, der
sie vergeblich liebt, tätowiert sich mit Lippenstiftherzen.
Rocco, der Gefängniswärter, kommt als jovialer
Weizenkornkonsument im Geschäftsanzug. Franz-Josef Selig singt
„Hat man nicht auch Gold beineben, kann man nicht ganz glücklich
sein“ und reproduziert dabei fast sämtliche Rollenklischees:
Sind wir nicht alle ein bisschen Rocco? Hinten die dreckige
Arbeit und vorne allweil saubere Hände, die das Geld zählen?
Nebenbei zeigt Bieito, dass keiner aus seiner Haut kann,
nicht mal aus seiner Theaterhaut. Manchmal wird so das
Lächerliche gestreift, manchmal das Überheroische erst
verständlich. Die großartig natürliche Leonore von Anja Kampe
(wagnergestählt, aber beethovenbiegsam) windet sich zur
Sicherheit einen Tape-Verband um die eigene Brust, ehe sie als
verkleideter Mann ins Reich der Finsternis steigt. Sie will
nicht nur flacher wirken obenherum. Man sieht (und hört) ihr an,
dass es sie fast zerreißt.
Es ist auch kein Fehler, dass
Bieito weiter Borges-Sätze einmontiert (Rocco: Wer ein
grässliches Unternehmen ausführt, muss sich vorstellen, dass er
es bereits vollbracht hat“) und im Einklang mit dem Dirigenten
Daniele Gatti zu Beginn auf die dritte, sinfonisch strukturierte
Leonoren-Ouvertüre zurückgreift. Dass der Regisseur aber im
ersten Akt die eigentliche Verantwortung von Mensch und Musik
weg- und an das Bühnenbild von Rebecca Ringst abdelegiert,
schwächt die Inszenierung dann doch. Für sich gesehen ist es
imposant – ein Artefakt aus Irrgängen, so hoch wie breit,
montiert aus Plexiglas, Metall und Neonröhren - aber im
Zusammenhang doch eine sich schnell abnutzende Bildmetapher.
Bereits während der Ouvertüre wird das Gestänge so oft und von
so vielen Mitgliedern des Staatsballetts, von Statisten und
später auch von den Hauptpersonen durchklettert, durchhangelt
und durchstiegen, dass man sich in einem Wimmelbild wähnt. Schon
klar: Aus dieser später zu Beginn des zweiten Aktes fünf Minuten
stumm gekippten Installation kommt keiner raus, obwohl wie beim
Cirque du soleil Drohnenfiguren drüber weg fliegen.
Wie
auch in anderen seiner Inszenierungen gerät Calixto Bieito an
Grenzen, sobald er sein Kernpersonal aus dem Blick verliert.
Aber wie er – nach einigen Konventionalitäten und
Unbeholfenheiten – wieder ins Stück und in die Erzählung
zurückfindet, das hat etwas Geniales. Als Leonore ihren
Florestan findet und (fast gegen dessen verwirrten Willen)
befreit, schwebt das ebenfalls eingesperrte
Odeon-Streichquartett vom schwarzen Bühnenhimmel herab und
spielt aus Beethovens a-Moll-Quartett, op. 132, den dritten
Satz: einen Seufzer der Erleichterung des Komponisten nach
langer Krankheit, mit Gottesdank, Choral-Melodie und
kirchentonartiger Durchführung. Wo Beethoven sagt, wie er litt
und leidet, ist Bieito bei sich. Und zeigt, dass die Kunst in
immensen Dosen das eigentliche Gegengift ist, die große Droge.
Man muss das nicht glauben, aber der Moment hat Beweiskraft.
Der größte Kranke in der Inszenierung ist Jonas
Kaufmann als Florestan, ein Männlein nur noch im Pyjama,
verloren wie Anthony Perkins in der Verfilmung von Kafkas
„Prozess“. Selbst als Leonore ihm in den Anzug hilft, klammert
er sich an Ticks und Zwangshandlungen. Kaufmann wirkt wie eine
verkümmerte Pflanze, nur die anfangs bewusst und gekonnt
verschattete Stimme sprießt noch, ein großer, intelligenter
Tenor, auch am Ende in den Höhen der fast unsingbaren
Auftrittsarie.
Bieto hält nichts von (falschem)
Heldentum – und hält den Schluss deshalb in der Schwebe.
Fernando, der sogenannte Befreier, erscheint in der
Proszeniumsloge, geschminkt wie Heath Ledger als „Batman“-Joker:
keiner, dem zu trauen wäre. Die Wiederbelebung Florestans sei
Leonores Sache, hoffte Beethoven, der ewig von der Liebe
Enttäuschte. Endlich entschlossen und nicht mehr farblos,
zaudernd, kühl (und manchmal stolpernd) gehen das
Staatsorchester, der Chor und Gatti den Schluss an. Kein Dunkel
mehr zwischen den Eheleuten? Schön wär’s.