Opernglas, September 2009
R. Tiedemann
Wagner: Lohengrin, München, 5. Juli 2009
Lohengrin
 

Es war das am sehnlichsten erwartete Opernereignis des Festspielsommers, und es galt höchsten Erwartungen gerecht zu werden im lange ausverkauften, prominent besetzten Saal des Nationaltheaters mit dem deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler an der Spitze, wie auch bei den 10.000 Open-Air-Zuschauern auf dem Münchner Max-Joseph-Platz und den unzähligen Zuhörern der weltweiten Radio-Liveübertragung. Und tatsächlich sollte es das erhoffte Ereignis werden — wenn auch ausschließlich ein akustisches. Aber wann kann man allein dies, zumal in einer Wagner-Oper, schon einmal behaupten.

Der Erfolg verdankt sich in erster Linie der atemberaubenden Rollendebüts zweier Ausnahmekünstler, die sich mit wahrhaft denkwürdigen Leistungen sogleich in vorderster Reihe erster Interpreten dieser Partien positionierten. Insbesondere Jonas Kaufmann, aktueller Liebling des (nicht nur deutschen) Sommerfeuilletons, hatte sich mit dieser Premiere einem enormen Erwartungsdruck ausgesetzt, eine auf Hochtouren laufende PR-Maschinerie tat ihr Übriges. Kaufmann bewies beneidenswerte Nervenstärke und spielte seine vokalen Vorzüge von Beginn an aus, gestaltete sicher und frei, ließ das männlich-markante, baritonale Timbre im Dienste einer ganz eigenen, verinnerlichten und tief durchdrungenen Rollenauffassung strömen und setzte doch gekonnt mit strahlendem Ton die geforderten dramatischen Höhepunkte. Waren die beiden ersten Akte dergestalt eine gute, überzeugende Darbietung, schwang sich dieser Lohengrin im letzten Akt mit einer singulären Leistung auf in den Olymp unvergesslicher Interpretation: Nach intensivem Aplomb in der Brautgemach-Szene ließ Kaufmann mit einer zunächst gänzlich resignativen, ins Pianissimo zurückgenommenen Grals-Erzählung die Opernwelt für Minuten den Atem anhalten. Mit welcher technischen Bravur der Sänger hier die leichte, doch klangintensive Kopfstimme über die Lagen führte und schließlich bruchlos in den volltönenden Strahl des Brusttons übergehen ließ, mit welch makellosem Legato er die Bögen spannte, nötigte größten Respekt ab. Man mag diese Partie ätherischer, respektive heldenhaft-zupackender gestaltet favorisieren, eine vokal wie szenisch zwingendere Rolleninkarnation wird man derzeit schwerlich finden können.

Noch überstrahlt wurde dieses Ereignis von der schlichtweg sensationellen Elsa der Anja Harteros. Mit absoluter vokaler Souveränität beherrschte ihr leuchtender Sopran das Geschehen, stand selbst im Piano stets präsent im Raum und überstrahlte zumeist selbst das hemmungsloseste instrumentale Schwelgen des GMD am Pult. Die Sängerin begeisterte mit schierer Stimmschönheit jenseits aller technischen Probleme oder manierierter Schnörkel — und doch war ein jeder Ton dicht am emotionalen Ausdrucksgehalt der jeweiligen Szene. Man muss schon sehr weit zurück denken, um sich einer vergleichbaren Interpretation dieser Partie zu erinnern. Zu Recht gehört diese Sängerin inzwischen zu den absoluten Top-Stars der Opernszene.

Hohes, wenn auch nicht derart herausragendes Niveau hatten auch Wolfgang Koch als eindrucksvoll, fast brachial auftrumpfender, zuweilen etwas frei mit dem Notentext jonglierender Telramund sowie Evgeny Nikitin als exemplarisch textverständlicher Heerrufer. Christof Fischessers höhenschwacher König Heinrich und insbesondere Michaela Schusters vokal wie szenisch blasse, farbarme Ortrud fielen dagegen deutlich ab. Chor und Extrachor der Bayerischen Staatsoper waren von Andrés Maspéro auf den Punkt vorbereitet worden und präsentierten üppigen, homogenen Ensembleklang.

Generalmusikdirektor Kent Nagano hatte das Geschehen auf der Bühne und im Graben über weite Strecken sehr gut unter Kontrolle. Insbesondere die lyrischen, innigen Momente liegen ihm offenbar besonders, hier ließen seine Musiker — nach einem zurückhaltenden, im Klangbild zu diffusen ersten Vorspiel — die Partitur zunehmend beseelter aufblühen. Die forscheren, bewegteren Passagen dagegen gerieten im polyphon aufgefächerten Kollektiv immer wieder in die Nähe latenter rhythmischer Ungenauigkeit, was selbst gemäßigten Tempi zuweilen den Gestus gehetzter Eile verlieh. Nachlässigkeiten, die einem Klangkörper dieser Qualität nicht unterlaufen sollten. Dennoch wurde der Maestro zu Beginn des dritten Aufzuges mit lautstarkem Jubel begrüßt.

Das an diesem erwartungsfrohen Abend ohnehin auf eruptive Reaktionen und vernehmbare Lautmeldungen eingestellte Publikum war sich zu diesem Zeitpunkt längst einig: Diese Neuproduktion ist musikalisch grandios, szenisch ein Flop. Schon zum Ende des ersten Aufzuges hatte es für die Regie von Richard Jones kräftige Buhrufe gehagelt. Und auch die zu diesem Zeitpunkt bei einem Großteil der Zuschauer noch vorhandene Aufgeschlossenheit sollte nach dem lähmend nichtssagenden zweiten Aufzug konsterniertem Frust, nach dem dritten herber Enttäuschung gewichen sein. Das nach einer sich derart mühsam an einer einzigen szenischen Idee entlang hangelnden Inszenierung verständliche, ja unvermeidliche Protestgeheule konnte einem das zuvor widerfahrene, so selten erlebte musikalische Hochgefühl schon beträchtlich vermiesen. Jones hantierte in seiner Inszenierung unbeholfen mit Begrifflichkeiten wie Deutschtümelei, Spießertum und Nazi-Vergangenheit, trifft darin jedoch kaum weiterführende Aussagen, geschweige denn liefert er werkimmanente lnterpretationsansätze.

Elsa als Architektin ihrer eigenen Visionen (vom Eigenheim), Lohengrin als diese Pläne umsetzender Zimmermann (der Beruf Jesu wie dessen Vater!), der nach dem Fanal der verbotenen Frage frustriert die gerade erst fertige Villa Wahnfried (ein bühnenbreites Blumenbeet zitiert den berühmten Sinnspruch Richard Wagners) samt Ehebett und Kinderwiege in Brand steckt — das hätte interessant werden können. Doch Jones bleibt zögerlich im Vagen. Da hilft es wenig, im Programmheft einen schönen, anregenden Text des französischen Dichters und Philosophen Paul VaIéry abzudrucken (, Eupalinos oder der Architekt“, 1923) und ausgerechnet Albert Speer (den Sohn von Adolf Hitlers „Großbaumeister“ und späterem Rüstungsminister und damit sicher keine zufällige Wahl) in einem aktuellen Originalbeitrag über das Spannungsfeld zwischen Architektur, Stadtplanung und Gesellschaft philosophieren zu lassen. Nicht einer von diesen oder anderen, näherliegenden Gedanken ist auf der Bühne als sinnhafter, schlüssig ausinszenierter Regieansatz zu erkennen. München hat zweifellos ein neues musikalisches Großereignis — eine überzeugende »Lohengrin«-Produktion hat es nicht.






 
 
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