Es
war das am sehnlichsten erwartete Opernereignis des Festspielsommers, und es
galt höchsten Erwartungen gerecht zu werden im lange ausverkauften,
prominent besetzten Saal des Nationaltheaters mit dem deutschen
Bundespräsidenten Horst Köhler an der Spitze, wie auch bei den 10.000
Open-Air-Zuschauern auf dem Münchner Max-Joseph-Platz und den unzähligen
Zuhörern der weltweiten Radio-Liveübertragung. Und tatsächlich sollte es
das erhoffte Ereignis werden — wenn auch ausschließlich ein akustisches.
Aber wann kann man allein dies, zumal in einer Wagner-Oper, schon einmal
behaupten.
Der Erfolg verdankt sich in erster Linie der atemberaubenden Rollendebüts
zweier Ausnahmekünstler, die sich mit wahrhaft denkwürdigen Leistungen
sogleich in vorderster Reihe erster Interpreten dieser Partien
positionierten. Insbesondere Jonas Kaufmann, aktueller Liebling des (nicht
nur deutschen) Sommerfeuilletons, hatte sich mit dieser Premiere einem
enormen Erwartungsdruck ausgesetzt, eine auf Hochtouren laufende
PR-Maschinerie tat ihr Übriges. Kaufmann bewies beneidenswerte Nervenstärke
und spielte seine vokalen Vorzüge von Beginn an aus, gestaltete sicher und
frei, ließ das männlich-markante, baritonale Timbre im Dienste einer ganz
eigenen, verinnerlichten und tief durchdrungenen Rollenauffassung strömen
und setzte doch gekonnt mit strahlendem Ton die geforderten dramatischen
Höhepunkte. Waren die beiden ersten Akte dergestalt eine gute, überzeugende
Darbietung, schwang sich dieser Lohengrin im letzten Akt mit einer
singulären Leistung auf in den Olymp unvergesslicher Interpretation: Nach
intensivem Aplomb in der Brautgemach-Szene ließ Kaufmann mit einer zunächst
gänzlich resignativen, ins Pianissimo zurückgenommenen Grals-Erzählung die
Opernwelt für Minuten den Atem anhalten. Mit welcher technischen Bravur der
Sänger hier die leichte, doch klangintensive Kopfstimme über die Lagen
führte und schließlich bruchlos in den volltönenden Strahl des Brusttons
übergehen ließ, mit welch makellosem Legato er die Bögen spannte, nötigte
größten Respekt ab. Man mag diese Partie ätherischer, respektive
heldenhaft-zupackender gestaltet favorisieren, eine vokal wie szenisch
zwingendere Rolleninkarnation wird man derzeit schwerlich finden können.
Noch überstrahlt wurde dieses Ereignis von der schlichtweg sensationellen
Elsa der Anja Harteros. Mit absoluter vokaler Souveränität beherrschte ihr
leuchtender Sopran das Geschehen, stand selbst im Piano stets präsent im
Raum und überstrahlte zumeist selbst das hemmungsloseste instrumentale
Schwelgen des GMD am Pult. Die Sängerin begeisterte mit schierer
Stimmschönheit jenseits aller technischen Probleme oder manierierter
Schnörkel — und doch war ein jeder Ton dicht am emotionalen Ausdrucksgehalt
der jeweiligen Szene. Man muss schon sehr weit zurück denken, um sich einer
vergleichbaren Interpretation dieser Partie zu erinnern. Zu Recht gehört
diese Sängerin inzwischen zu den absoluten Top-Stars der Opernszene.
Hohes, wenn auch nicht derart herausragendes Niveau hatten auch Wolfgang
Koch als eindrucksvoll, fast brachial auftrumpfender, zuweilen etwas frei
mit dem Notentext jonglierender Telramund sowie Evgeny Nikitin als
exemplarisch textverständlicher Heerrufer. Christof Fischessers
höhenschwacher König Heinrich und insbesondere Michaela Schusters vokal wie
szenisch blasse, farbarme Ortrud fielen dagegen deutlich ab. Chor und
Extrachor der Bayerischen Staatsoper waren von Andrés Maspéro auf den Punkt
vorbereitet worden und präsentierten üppigen, homogenen Ensembleklang.
Generalmusikdirektor Kent Nagano hatte das Geschehen auf der Bühne und im
Graben über weite Strecken sehr gut unter Kontrolle. Insbesondere die
lyrischen, innigen Momente liegen ihm offenbar besonders, hier ließen seine
Musiker — nach einem zurückhaltenden, im Klangbild zu diffusen ersten
Vorspiel — die Partitur zunehmend beseelter aufblühen. Die forscheren,
bewegteren Passagen dagegen gerieten im polyphon aufgefächerten Kollektiv
immer wieder in die Nähe latenter rhythmischer Ungenauigkeit, was selbst
gemäßigten Tempi zuweilen den Gestus gehetzter Eile verlieh.
Nachlässigkeiten, die einem Klangkörper dieser Qualität nicht unterlaufen
sollten. Dennoch wurde der Maestro zu Beginn des dritten Aufzuges mit
lautstarkem Jubel begrüßt.
Das an diesem erwartungsfrohen Abend ohnehin auf eruptive Reaktionen und
vernehmbare Lautmeldungen eingestellte Publikum war sich zu diesem Zeitpunkt
längst einig: Diese Neuproduktion ist musikalisch grandios, szenisch ein
Flop. Schon zum Ende des ersten Aufzuges hatte es für die Regie von Richard
Jones kräftige Buhrufe gehagelt. Und auch die zu diesem Zeitpunkt bei einem
Großteil der Zuschauer noch vorhandene Aufgeschlossenheit sollte nach dem
lähmend nichtssagenden zweiten Aufzug konsterniertem Frust, nach dem dritten
herber Enttäuschung gewichen sein. Das nach einer sich derart mühsam an
einer einzigen szenischen Idee entlang hangelnden Inszenierung
verständliche, ja unvermeidliche Protestgeheule konnte einem das zuvor
widerfahrene, so selten erlebte musikalische Hochgefühl schon beträchtlich
vermiesen. Jones hantierte in seiner Inszenierung unbeholfen mit
Begrifflichkeiten wie Deutschtümelei, Spießertum und Nazi-Vergangenheit,
trifft darin jedoch kaum weiterführende Aussagen, geschweige denn liefert er
werkimmanente lnterpretationsansätze.
Elsa als Architektin ihrer eigenen Visionen (vom Eigenheim), Lohengrin als
diese Pläne umsetzender Zimmermann (der Beruf Jesu wie dessen Vater!), der
nach dem Fanal der verbotenen Frage frustriert die gerade erst fertige Villa
Wahnfried (ein bühnenbreites Blumenbeet zitiert den berühmten Sinnspruch
Richard Wagners) samt Ehebett und Kinderwiege in Brand steckt — das hätte
interessant werden können. Doch Jones bleibt zögerlich im Vagen. Da hilft es
wenig, im Programmheft einen schönen, anregenden Text des französischen
Dichters und Philosophen Paul VaIéry abzudrucken (, Eupalinos oder der
Architekt“, 1923) und ausgerechnet Albert Speer (den Sohn von Adolf Hitlers
„Großbaumeister“ und späterem Rüstungsminister und damit sicher keine
zufällige Wahl) in einem aktuellen Originalbeitrag über das Spannungsfeld
zwischen Architektur, Stadtplanung und Gesellschaft philosophieren zu
lassen. Nicht einer von diesen oder anderen, näherliegenden Gedanken ist auf
der Bühne als sinnhafter, schlüssig ausinszenierter Regieansatz zu erkennen.
München hat zweifellos ein neues musikalisches Großereignis — eine
überzeugende »Lohengrin«-Produktion hat es nicht. |