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Prof. Dr. Michael Bordt
Wagner: Lohengrin, München, 19. Juli 2009
Provozierendes Gesamtkunstwerk
 
Lohengrin an der Bayerischen Staatsoper > Aufführung am 19. Juli 2009

Auch die fünfte und letzte Aufführung von Wagners 'Lohengrin' innerhalb der Münchner Festspiele 2009 hinterlässt beim Publikum Verstörung, die sich in kräftigen Buhrufen nach dem dritten Akt entlädt. Wegen der Inszenierung, nicht wegen der Musik. Dabei war es um die Musik nicht einmal auf das Beste bestellt: Viele waren natürlich in der Erwartung gekommen, Jonas Kaufmann als Lohengrin zu hören, und so war es eine Enttäuschung, dass Kaufmann nach zwei Akten aufgrund einer fiebrigen Erkältung ausgerechnet durch Ivar Gelhuus (Gilhuus) mit einer eher unangenehm brüchigen und vibratoreichen Tenorstimme ersetzt werden musste. Aber auch dann, wenn Kaufmann in den ersten beiden Akten einen sehr präsenten und stimmlich starken Lohengrin gab, Anja Harteros eine lyrische und anrührende Elsa auf die Bühne brachte, Wolfgang Koch einen kraftvoll-bösen, aber auch verzweifelt-abhängigen Telramund sang und Kent Nagano umsichtig, unglaublich transparent, aber auch gefühlsstark das bayerische Staatsorchester dirigierte (das ihm darin eher folgte als der Chor - hier geriet leider manches aus den Fugen): Michaela Schusters Ortrud klang streckenweise eher schrill und laut als böse und verschlagen, und auch Christof Fischesser als Heinrich der Vogler fehlte wirklich sonore Größe. Aber es war nicht die Musik, es war die Inszenierung, die mit Buhrufen abgestraft und vielfach als schlichtes Ärgernis empfunden wurde.

In der Tat verstören die Bilder, die Richard Jones als Regisseur gemeinsam mit Ultz als Bühnenbildner auf die Bühne bringt. Muss das sein, fragen sich viele: Lohengrin in Jogginghose und T-shirt, später dann in Zimmermannstracht? Elsa als Architektin, deren größter Traum darin besteht, ein kleinbürgerliches Einfamilienhaus zu bauen, das von Akt zu Akt Gestalt annimmt, bis es fertig gebaut knapp die ganze Bühne füllt und von Lohengrin am Ende abgefackelt wird? Ortrud als Geschäftsfrau mit blonder Perücke und grauem Hosenanzug, die die alten Götter Wodan und Freia anruft? Die Bürger von Braband als uniforme Masse, unter denen sich auch ein paar braune Uniformen finden, und die am Ende der Oper kollektiven Suizid begehen?

Gesamtkunstwerk statt Bebilderung

Nun, es muss natürlich nicht sein, aber es kann. Wer die Produktionen von Jones kennt, der weiß, dass es ihm nie um eine ganz eindeutige und klare Übersetzung des Librettos und der Musik auf die visuelle Ebene der Bühne geht. Er fügt vielmehr dem, was die Musik und das Libretto erzählen, eine dritte Ebene hinzu, so dass sich aus Musik, Libretto und der Inszenierung ein neues, faszinierendes Gesamtkunstwerk ergibt. Ein Beispiel dafür: Als Lohengrin die Bühne betritt, in grauer, seitlich silber gestreifter Jogginghose, blauem Shirt und Turnschuhen, erzählt die Musik etwas anderes als man sieht. Man hört: Hier kommt der Erlöser aus lichten Höhen auf die Erde. Man sieht: Ein Mensch betritt die Bühne, sicherlich sympathisch und mit persönlicher Ausstrahlung, aber gewiss kein Halbgott aus einer anderen Welt. Das provoziert Fragen.

Dass das, was auf der Bühne gezeigt wird, nicht einfach bebildert, was das Libretto erzählt oder die Musik deutlich macht, entspricht dabei der Kunstform Oper. Oper ist kein Theater. Schon durch die Musik wird der Handlung eine neue Ebene der Deutung hinzugefügt, die die Handlung auf viele Weise ausdeuten kann - kommentierend und ergänzend, aber auch in Frage stellend und kontrakarierend. Ebenso bringt Jones mit der Inszenierung eine neue, dritte Ebene in das Kunstwerk hinein. Die Bilder entfalten eine eigene Kraft, die sich mit der Musik ergänzt, reibt, die die Handlung in Frage stellt. Kriterium dieser Art von Regietheater ist die Stärke des kreativen Potentials, das in die Inszenierung im Zuschauer entfalten kann. Und in der Tat sind die Bilder und Symbole unglaublich vielschichtig:

Multiple Perspektiven

Man kann Jones' 'Lohengrin' als politische Parabel lesen, die die Unmöglichkeit des ‚kleinen Glücks‘ in einer totalitären Gesellschaft deutlich vor Augen führt. Von Beginn an ist klar: Wir sind in einem hochgerüsteten Staat kurz vor einem Angriffskrieg, die Bürger sämtlich uniformiert und uniform, die Stimme ‚von oben‘, die alle Bürger stets erstarren lässt, ist nicht die Stimme eines himmlischen Erlösers, sondern des Heerrufers des Königs. Besonders pessimistisch: Selbst dann, wenn im dritten Akt die Bürger die blauen Shirts von ihrem neuen Herrscher Lohengrin tragen - es ändert sich dabei nichts. Selbst Elsa, die zunächst von der Stimme von oben gänzlich unbeeindruckt gewesen ist und stets weiter an ihrem Haus baute, beginnt ebenfalls zu erstarren und sich von dem Totalitarismus in Bann ziehen zu lassen. In einer solchen Gesellschaft lässt sich kein heimeliges Haus bauen, das Sicherheit und Schutz gewähren könnte.

Man kann das Stück als Kritik an den Lebenzielen einer kleinbürgerlichen Existenz sehen, die nichts anderes möchte, als ein Heim, das vor allen äußeren Gefahren schützt. Elsa und Lohengrin bauen kein Schloss, keine Burg, sondern eine bürgerliche Einfamilienhaus mit Ikea-Bett, Kaninchenställen und Kinderwagen. Aber ein derartiges Lebenskonzept geht nicht auf. Das Unheil ist eingezogen, noch bevor Elsa und Lohengrin das Haus überhaupt betreten. Vom Balkon des Hauses aus singt Telramund mit seinen Mannen seine Anklage gegen Lohengrin. Kleinbürgerliche Träume zerschellen an der Wirklichkeit.

Jones' 'Lohengrin' lässt sich als Geschichte der Zerstörung einer Frau sehen, deren Eltern früh gestorben sind, die des Brudermords angeklagt ist, sich konsequent in ihre eigene Privatwelt flüchtet und daran scheitert. Großartig, wie sich Elsa bei Jones im ersten Akt konsequent der Kommunkation verweigert, seltsam, beinahe autistisch mit ihren Fingern spielt, um einen Freiraum in ihrer Innenwelt schützen zu können, der im Hausbau konkrete Gestalt annimmt. Durch die Kraft des Bösen wird sie zunehmend zu einer Realistin, erwacht aus ihren Glücksphantasien, sie wird aus ihrer Traumwelt gerissen, in die Enge gedrängt und scheitert.

Man kann die Münchner Produktion als Kritik an einer Männerkultur lesen, in der Männer das Gespräch verweigern, sich an den Taten messen lassen wollen anstatt sich selbst zu erkennen zu geben. Bei Jones wird deutlich, dass auch Lohengrin seinen Auftrag verweigern möchte, indem er sich in die Häuslerbauer-Idylle flüchtet. Vom Gral gesandt, eine Gesellschaft zu retten, verfolgt er andere Ziele.

Man kann Jones' Deutung auch als existentielle oder religiöse Provokation verstehen. Seine Darstellung der Lohengrinfigur konfrontiert mit der Frage, wer oder was eigentlich Erlösung oder Rettung bringen kann, wenn es überhaupt Erlösung gibt. Motive aus christlichem Hintergrund - Lohengrin als Zimmermann, die Charakterisierung der Figur als göttlich (so die Musik) und menschlich (so die Ebene der Inszenierung) zugleich - spannen ein schillerndes Assoziationsfeld auf, das Überlegungen zu Religion und Alltag, zu Sehnsucht und Realismus freisetzen kann.

Warum wird diese Multidimensionalität der Inszenierung vom Münchner Publikum so wenig gewürdigt? Vielleicht ist das Bild des Hausbaus zu realistisch, so dass man das Bild als eindeutiges Zeichen, aber nicht als vieldimensionales Symbol versteht. Vielleicht liegt es auch daran, dass der Ortrud-Handlungsstrang nicht wirklich plausibel in die Erzählung integriert worden ist. Die Inszenierung überzeugt über weite Strecken aber, weil sie für den, der sich auf die Bilderwelt einläßt, Fragen und Perspektiven aufwirft, die sich produktiv aus dem Lohengrinstoff ergeben. Wer solche Fragen stellt, der wird in der Inszenierung von Jones vielfältige Perspektiven und Antworten finden! Also: Hingehen, und nicht nur einmal! Es lohnt sich wirklich!






 
 
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