Salzburger Nachrichten, 9. Dezember 2009
Derek Weber Mailand (SN)
Bizét, Carmen, Mailand, 7. Dezember 2009
Eine junge Georgierin betört als Carmen
 
 
Je südlicher einer denkt und fühlt und je mehr er über den Gebrauch des christlichen Kreuzes in der italienischen Politik weiß, desto eher wird er den Buh-Orkan für die Regie und die wohlwollende bis enthusiastische Zustimmung der kritischen Opernbesucher für die heurige Eröffnungspremiere an der Mailänder Scala nachvollziehen können.

Deren Saison wird jedes Jahr am 7. Dezember, dem Namenstag des Schutzpatrons der Stadt Mailand, des heiligen Ambrosius, eröffnet. Heuer wurde dafür Georges Bizets „Carmen“ neu inszeniert, exquisit besetzt mit Jonas Kaufmann als Don José und Erwin Schrott als Escamillo. Die sizilianische Theatermacherin Emma Dante, die 2005 beim „Young Directors Project“ der Salzburger Festspiele gastiert hatte, wandte sich mit dieser „Carmen“ erstmals der Opernregie zu. Sie bettete die Geschichte der unangepassten Carmencita in ein düsteres, von nicht immer leicht lesbaren Symbolen und Ritualen beherrschtes mediterran-bigottes Milieu.

Wo Kirche und Männer dominieren, ist die Gegenkraft der autonomen Frauenliebeswahl nicht weit. Neben dem katholischen Schwarz bestimmen Rot und Weiß die – von Emma Dante selbst entworfenen – unfolkloristisch-schönen Kostüme. Richard Peduzzis Bühnenbilder verdichten die spanischen Schauplätze ins Bedrohlich-Abstrakte. Ebenso abstrakt ist die Zeit der Handlung. Und zeitlos sind die in schwarzes Leder gekleideten Soldaten. Ritualisierte Choreografien der Gewalt ersetzen hier das Spaniertum der Soldateska.

Draußen vor der Tür agierte die reale Polizei in hochgezüchteter Straßenkampfausrüstung. Immerhin feiert man das 40-Jahr-Jubiläum der ersten Eierwürfe zur Scala-Eröffnung am 7. Dezember 1969. Doch heuer ereigneten sich nur kleine Scharmützel mit Demonstranten.

Und die Privilegierten, die durch die Barrieren ins Haus geschleust werden (wie US-Autor Dan Brown oder Fiat-Chef John Elkann), sehen ein Theater ohne den üblichen Blumenschmuck. Auch die meisten Damen halten sich an die angesichts der Wirtschaftskrise ausgegebene Parole, sich dezent zu kleiden. Freiheitsliebe wichtiger als Erotik Doch wer ist diese Tabak-Arbeiterin auf der Bühne, die sich ihre Lieben selbst aussucht? In Emma Dantes Inszenierung ist sie ein junges Ding, das Männer provoziert, indem es immer und immer wieder den Rock hebt und den Blick auf ihre Knie freigibt. Das wirkt wie eine obsessive Provokation der vorgeblich Anständigen.

Don José ist einer von denen. Dass er dem Wunsch seiner Mutter gehorchend Micaëla heiraten wird, erscheint ihm normal – bis er Carmen begegnet. Deren Erotik ist zwar in dieser Inszenierung aufs Kniezeigen beschränkt, aber das anarchische Frei-sein-Wollen bis in den Tod zeichnet sie aus. Am Ende reicht sie José noch das Messer, das ihr den Tod bringt. Und der allpräsente Priester schaut mit seinem Gefolge zu.

Regisseurin Emma Dante wagte sich erst ganz zum Schluss des Applauses auf die Bühne, um die Buhs des Loggione, des Stehplatzes der Scala, entgegenzunehmen. Barenboim dirigiert makellos An Daniel Barenboims Dirigat gab es wenig auszusetzen. Es war in Maßen traditionell, rückte die Farben der Partitur (und ihre perkussiven Qualitäten) ins Zentrum, ohne grell und plakativ zu sein.

Die junge Georgierin Anita Rachvelishvili ist mit ihrer dunklen Stimme die große Entdeckung des Abends. Jonas Kaufmann gab einen makellosen Don José auf der Suche nach einem Mittelweg zwischen französischer Oper und unausrottbarem Pseudo-Verismo. Erwin Schrott war ein souveräner Escamillo. Nur Adriana Damato enttäuschte als Micaëla, weil ihre Stimme in der Mittel- und tiefen Lage ohne Kraft und Ausdruck blieb.

Der Chor der Scala war präsent wie immer; und die Schauspieler der von Emma Dante geleiteten „Compagnia Sud Costa Occidentale“ sorgten für jene Dynamik, welche die statischen Chor-Bilder und das opernübliche Rampen-Stehen konterkarierte.
(Einen fast gleichen Artikel findet man bei Klassikinfo.de, aber mit einem anderen Namen als Autor. Vielleicht hat der ja den völlig überflüssigen Warnhinweis hinzugefügt:
 Jonas Kaufmann gab einen makellosen Don José auf der Suche nach einem Mittelweg zwischen französicher Oper und unausrottbarem Pseudo-Verismo. Es wäre doch sehr schade, wenn er seine bisweilen schon etwas zum Schweren neigende Stimme an Wagner zugrunderichten wollte.)






 
 
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