Neue Zürcher Zeitung, 28. November 2008
Peter Hagmann
Beethoven: Fidelio, Paris, Opéra Garnier, 25. November 2008
Ideendrama – und vibrierende, gegenwärtige Emotion
Beethovens «Fidelio» als Sternstunde des musikalischen Theaters in Paris
 
«Fidelio» zum Beispiel. Die einzige Oper Ludwig van Beethovens gehört zum Kern des Repertoires und erscheint häufig auf den Spielplänen – soll da von einer Neuinszenierung in Paris tatsächlich die Rede sein? Wie der Vorhang fällt, ist die Frage erledigt. Da wird nämlich ein Werk aus fernen Tagen mit Hilfe kreativ tätiger Interpretation in die Gegenwart geholt; deutlich wird dabei, dass Musiktheater weit mehr sein kann als erhabene Unterhaltung, dass vielmehr auch an einem Stück aus dem Museum unerwartete Züge und drängende Fragen freigelegt werden können. Zumal wenn ihm auf so hohem künstlerischem Niveau begegnet wird, wie es hier geschieht.

Neue Dialoge
Zur Eröffnung gleich eine Überraschung. Nicht die punktierten Gesten der «Fidelio»-Ouverture sind es nämlich, mit denen der Abend anhebt. Den Einstieg bildet vielmehr die Ouverture «Leonore I», die Beethoven bekanntlich nie gehört hat, weil die Aufführung, für die er sie geschrieben hat, nicht zustande gekommen ist. «Fidelio» kennt ja eine vertrackte Entstehungsgeschichte, an deren Komplexität Beethoven durchaus seinen Anteil hat; «Leonore» heissen die diversen Vorstufen. Der Dirigent Sylvain Cambreling hat sich entschieden, für den Anfang der Oper auf die «Leonore» zurückzugreifen, also nicht mit dem Streit-Duett von Marzelline und Jaquino, sondern der nachdenklichen Arie der Marzelline zu beginnen. Das hat den Vorteil, dass der dramaturgische Verlauf in aller Stringenz von dieser Arie aus über das Duett und ein ebenfalls aus der «Leonore» übernommenes Terzett zu dem einzigartigen Quartett «Mir ist so wunderbar» führt. Die eröffnende Arie der Marzelline steht in c-Moll, wozu die in derselben Tonart geschriebene Ouverture «Leonore I» besser passt als das in E-Dur stehende Vorspiel zu «Fidelio». Zudem wird durch diese Entscheidung die Entwicklung der Oper vom düsteren c-Moll ins triumphale C-Dur unterstrichen.

Die Massnahmen stehen für jenen deutlichen interpretatorischen Zugriff, der den Abend insgesamt prägt. Natürlich gibt es auch in Paris die Geschichte um einen politischen Gefangenen namens Florestan, der von seiner als Mann verkleideten und als Gefängnishelfer beschäftigten Gattin Leonore befreit wird. Das Geschehen wird aber derart auf den modellhaften Kern zurückgeführt, dass es statt der Handlung die Botschaft ist, die in den Vordergrund rückt. Die langsamen Tempi, die Sylvain Cambreling wählt (und die von den Sängern durchs Band bewältigt werden), unterstützen das, weil sie sorgsames Ausformulieren des musikalischen Textes und damit zugespitzte Expressivität ermöglichen.

Dazu kommt, und das verleiht der Aufführung ihre ganz besondere Seite, die Neufassung der tatsächlich etwas altmodischen Dialoge Joseph von Sonnleithners durch den deutschen Autor Martin Mosebach; sie lassen die Figuren nicht die Geschichte erzählen, sondern gleichsam monologisierend über sich selber nachdenken. Überaus anregend ist das und beeindruckend in Einfühlung wie musikalischer Sensibilität – und da die gesprochenen Teile sanft verstärkt werden, kommen sie ganz nah an den Zuschauer heran. Die von Mosebach postulierte Neuausrichtung des Ministers scheint allerdings nicht wirklich gelungen. Auch in dieser Fassung tritt Don Fernando als deus ex machina auf, der unvermittelt die Wendung zum Guten bewirkt. Und auch hier klingt das Finale in C-Dur heftig herausgestossen: als Utopie eben, die doch Wirklichkeit werden muss.

Das sind die Voraussetzungen, die der Regisseur Johan Simons kongenial aufnimmt. Auch er setzt auf Langsamkeit, streut lange Pausen in den Verlauf, und auch er zeigt das Stück wie unter einem Brennglas. Die Figuren finden darum zu ausserordentlich scharfen und zum Teil überraschenden Profilen. Marzelline, die gern etwas an den Rand gerät, wird hier zu einem jungen Menschen, der das Potenzial von morgen in sich trägt – das lässt Julia Kleiter hören, das zeigt aber auch das bunte Kostüm, das ihr Greta Goiris hat schneidern lassen. Die junge Frau, die sich den anderen, den gefühlvollen Mann erträumt, trägt von Anfang an jene Farben, welche die Frauen im Befreiungsfinale allesamt unter ihren gräulichen Regenmänteln hervorzaubern.

Kaum Kontur zeigt Jaquino – doch geht das weniger auf Ales Briscein als auf die Partie selbst zurück. Umso heller der Lichtkegel, der auf den Bösewicht Pizarro fällt; mit seinem metallenen Timbre und seinem selbstverständlichen Volumen macht ihn Alan Held zu einem ausgefuchsten Zyniker der Macht, der erst ganz zuletzt aufgibt. Besonders interessant gerät das Rollenporträt des Gefängniswärters Rocco, der von Franz-Josef Selig mit seinem sonoren Bass in der ganzen Ambivalenz zwischen Gehorchen und Aufbegehren gezeigt wird. Schlechterdings grandios, in der stimmlichen Ausstrahlung wie in der darstellerischen Anverwandlung, Angela Denoke als Leonore; ihre Emphase lässt die Zivilcourage, die diese Figur auszeichnet, ganz stark heraustreten und die Wiederbegegnung zwischen den Eheleuten als einen Moment dichter Emotion erleben. Angenehm distanziert wirkt dagegen Jonas Kaufmann, der als Florestan zwei gezielte Schluchzer setzt, aber bei aller Intensität frei bleibt von jenem pathetischen Schreien, das so fatal mit dieser Partie verbunden ist. Die Besetzung lässt eine geschickte Hand erkennen; Paris hat hier eindeutig mehr Glück als Zürich.

Nachdenken erlaubt
Die Moral von der Geschicht? «Fidelio» spielt auf der Pariser Bühne in einem hochmodernen, mit allen erdenklichen elektronischen Kontrollmechanismen versehenen Gefängnis. In uniformem Beige ist das Bühnenbild von Jan Versweyveld gehalten, und beige sind auch die klobigen, von ferne an Guantánamo erinnernden Kostüme; selbst der Gefängniswärter Rocco ist ein Gefangener jenes Systems, in dem es nicht leichtfällt, den Kopf oben zu behalten. Genau darum geht es aber, das ist die Botschaft Beethovens, und das arbeitet der Abend in aller Schärfe heraus: «Fidelio» nicht als Hohelied der Liebe oder der Ehe, sondern als Aufruf, nicht wegzusehen und nicht klein beizugeben – gibt es Aktuelleres? Gewiss, welcher Art genau die Menschenwürde ist, für die der Minister im Finale eintritt, bleibt auch in dieser Produktion offen. Indes fühlt man sich hier mehr als in anderen Aufführungen zum Nachdenken darüber eingeladen. Das ist es, was eine Interpretation mit Biss will – und das ist es, was das musikalische Theater am Leben erhält.

 






 
 
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