Die Welt, 3. Juli 2008
Von Manuel Brug
Bizét: Carmen, Zürich, 28. Juni 2008
Die verfremdete Carmen
Premiere in Zürich: Vesselina Kasarova debütierte in der berühmtesten Mezzo-Rolle
Große Verführerin und schöne Teilnahmslose, abgefeimtes Zigeunerinnen-Luder und sensible, liebende Frau. Sie ist ungebunden und ihren Leidenschaften verfangen, mal willige Täterin, mal passives Opfer. In den 160 Jahren ihrer von Prosper Merimée erdachten literarischen Existenz, die durch ihren von George Bizet 1875 vorgenommenen, von Nietzsche antiwagnerianisch verklärten Wechsel auf die Opernbühne beflügelt wurde, ist Carmen zum übermenschlichen Archetyp gewachsen.

Jeder große Mezzo und auch viele Sopranistinnen haben sich in die einzigartige Rollengeschichte der populärsten, aber eigentlich kaum mehr zu bewältigen, weil nicht wie auch immer gearteter Konvention und Anti-Konvention entwindbaren Opernfigur eingestempelt. Zuletzt haben Anne Sofie von Otter, Anna Caterina Antonacci und Elina Garanca die Herausforderung Carmen gesucht und sich in deren Nähe gewärmt. Cecilia Bartoli, Susan Graham und Magdalena Kozena zögern noch. Zur Eröffnung der Züricher Festspiele, per HDTV-Screen auch nach außen getragen in die monströse Public-Viewing-Arena vor dem Opernhaus, hat sich nun die eher zurückhaltende, ihre Weiblichkeit selten ostentativ ausstellende, jüngst auch öffentlich mit ihrem Beruf und dem Sängerbetrieb hadernde Vesselina Kasarova dem männermordenden, aber melancholieumwehten Mythos gestellt.

Und sie hat halb gewonnen. Die Bulgarin kommt uns ganz brechtisch. Auf einer weißen Scheibe, vor einem weißen Hintergrund. Die Polizeiwache ist nur ein Sonnenschirm, die Tabakfabrik eine Leuchtreklamen und zwei Türflügel (Bühne: Volker Hintermeier). Da lehnt sie, im gemusterten Kleid mit Schürze, mit kurzem Lockenkopf und Riemchensandaletten. In der Hüfte geknickte Hausfrauensirene. Die sagt nicht "Hoppla!", die singt ihre Habanera, gurrend, auf jede Silbe kommt es dabei an. Don José, ein Kreuzworträtsel verfertigendes, in den Sessel geklemmtes Muttersöhnchen, das sich vor den Frauen hinter seiner Pausenstulle versteckt, beachtet sie eher unwillig, dann zunehmend neugieriger. In der Seguedilla fesselt sie ihn, nicht umgekehrt, und als er sie am Ende unter einem alten Olivenbaum ersticht, ist Carmen wirklich überrascht. Ohne Kuss und reuige Umarmung stirbt sie.

Eine Anti-Liebesgesichte. Der schöne, allzu schnell zum üblichen Tenorproblembären mutierende Jonas Kaufmann als Mann, der sich nicht traut und die introvertierte Kasarova als sexuelle Exhibitionistin. Das könnte spannend sein.

Doch Zürichs scheidender Schauspielhauschef Matthias Hartmann verlässt sich zu sehr auf die kontrastive Behauptung dieser glanzvollen Gegen-den-Strich-Besetzung. Hat er vor Ort "Die verkaufte Braut" und "Tiefland" noch bis zum letzten Deutungstropfen gemolken, so beginn er diesmal niedrig stapelnd mit einer operettig hinskizzierten Stilisierung: abgezirkelte Macho-balztänzchen mit kollektivem im-Schritt-Kratzen. Dann aber kapituliert die Regie schnell und inkonsequent vor dem "Carmen"-Mythos. Will nur minimalistisch reduziert erzählen und landet doch bei naturalistischem Stadttheater mit Ambition.

Zumal schnell klar wird: Kasarova zieht ihren kunstvoll-gekünstelten Vokalansatz durchs ganze Stück: ja nie Bögen singen, Carmen auf mal guttural dunkel angeschliffene, dann wieder nur halbgeflüstert bedeutungsschwangere Silben beschränkt. Und immer mit Hüftknick. Das macht sie so vorhersehbar, hat man das rein kopfgesteuerte Erotik-Prinzip verstanden, so überraschungslos anti-romantisch. Dekonstructing Carmen - ein V-Effekt in Permanenz. Der immer heldischer tönende Jonas Kaufmann ist in den ersten zwei Akten eigentlich unterfordert. Im Duett mit der ältlich-abgesungenen Micaela von Isabel Rey knödelt er bedenklich, Mittellage und Passagio-Region springt im Piano kaum an, die Blumenarie singt er intensiv, nicht unbedingt schön. Doch je wütender und rachsüchtiger er wird, auch gegen den grobianischen Escamillo von Michele Pertusi, desto besser, nachhaltiger steigert er sich auch stimmlich in seinem Ärger und Schmerz.

Der Ansatz des Nackten, ungeschminkt Deutlichen, unterläuft Hartmann eigentlich schon von Anfang an anekdotisch. Sorgt zunächst am Rand der Scheibe, zentral platziert eine mit Schwanz und Ohr wackelnde Hundeattrappe für Heiterkeit, so lagern da später in Lilias Pastias, von einem Strommast samt Lichtkette markierter Kneipe zwei Weinkisten, bei den Schmugglern ein Fels und vor der Arena, die nur ein staubiger Dorfanger ist (was die auch soziale Entwurzelung der ländlichen Schicht in der Stadt Sevilla auch nicht eben erklärt) der obligate Stierschädel. Der ganze dritte Akt, mit seinem ausgebreiteten Bodenteppich, dem bleichen Pappmond und den Hügelketten wirkt nur noch hilflos.

Selbst Franz Welser-Möst klingt in seiner letzten, im Vorfeld von viel Kulissenärger begleiteten Premiere als Zürcher Opern-Musikchef wenig inspiriert. Die Partitur wird vom besonders in den Blechbläsern nachlässigen Orchester routiniert heruntergedroschen, da findet kaum eigene Interpretation statt. Hier schwitzt nichts, glüht es aber auch nicht staubtrocken. Jetzt gibt es nächste Saison erstmal zwei weitere "Carmen"-Debütanten - am Pult: die Dirigenten John Elliot Gardiner und Mariss Jansons.






 
 
  www.jkaufmann.info back top