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Der Bund, 18. JUNI 2007 |
TOBIAS GEROSA |
La Traviata, Paris, Palais Garnier, 16. Juni 2007
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Ausgebuhte Wahrhaftigkeit
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Verdis «Traviata» inszeniert
von ChristophMarthaler an der Pariser Oper |
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Christoph Marthaler bringt Verdis «Traviata» zur
Aufführung: Er zeigt keine typische Marthaler-Arbeit, seine «Traviata»,
entschlackt von aller Sentimentalität, ist ein Spiel von Rollen und
Wahrheit, das unmittelbar berührt. Das reichte, um im Palais Garnier brutal
ausgebuht zu werden.
Viel hat man nicht mehr gehört von Christoph Marthaler, seit er das
Schauspielhaus Zürich verlassen musste. Jetzt hat er an der Pariser
OperVerdis«LaTraviata»inszeniert. Die ehrwürdige Pracht des Palais Garnier,
der alten Opéra, schafft schon vor dem ersten Ton eine ästhetische
Reibungsfläche zu Anna Viebrocks am ehemaligen Chemnitzer Kulturhaus
orientiertem Einheitsraum, der geprägt istvon einer leeren Bühne mit
vergilbtem Vorhang und davor viel leerem Raum. Im ersten und dritten Bild,
den Festen der Halbwelt bei der Kurtisane Violetta, steht hier eine Kopie
der Zuschauergarderobe der Opéra.
Schon während des sehr langsam und legatissimo dirigierten Vorspiels (eine
Grundhaltung, die durchgeht) klappt Violetta ein erstes Mal zusammen, es
kostet sie sichtbar Mühe, für die eintreffenden Gäste die glänzende Fassade
aufrechtzuerhalten. Aber Fassade ist alles in ihrerWelt – so sehr, dass der
choreografisch genau und detailverliebt geführte und homogen klingende Chor
als Horde Maschinenmenschen erscheint, sozial gepanzert und unfähig echter
Empfindungen. Der unbestimmbare Kostümmix,der sich beinahe zu allen Stilen
des 20. Jahrhunderts bedient, betont die Zeitlosigkeit dieser
unübersehbaren, die Absurdität an der von Verdi vorgeführten Schicht
hervorstellenden Kritik.
Verloren wie zwei Kinder
Nur Alfredo sticht aus dieser Gesellschaft, hält sich nicht an die Codes,
weil er sie nicht kennt. Seine Posen wirken suchend, seine Impulsivität ist
ein Fremdkörper. Jonas Kaufmann verkörpert den schicken, aber scheuen
Jüngling vom Land äusserst glaubhaft, singt mit prächtigem, in jeder Lage
ansprechendem und immer wieder ins Piano zurückgenommenem Tenor – eine
Idealbesetzung! Verloren wie zwei Kinder sitzen er und Violetta bei
ihrem Duett nebeneinander auf dem Garderobentresen,
beraubt jeder Maske – und die Wirkung könnte intimer kaum sein: Da sprechen
zwei miteinander, die spüren, dass zwischen ihnen alles anders sein könnte.
Auch wenn sie singen, sind das Pathos und die Überhöhung der Oper plötzlich
ganz weit weg.
Immer wieder suchen Marthaler und sein Ensemble diese intimen Stellen und
setzen sie mit bemerkenswerter Natürlichkeit ab von den Momenten des
bewussten Singens, das Christine Schäfers Violetta ganz allein im
Scheinwerferkegel des Verfolgers stellt. Immer klarer kristallisiert sich
die Frage nach sozialer Rolle und wahrer Identität im Verlauf des Abends
heraus.
Feine Gestaltung
Das zweite Bild wirkt, abgesehen von einem zureparierenden Rasenmäher im
Hintergrund und der durch das unveränderte Bühnenbild verfälschten
Landsituation, auf den ersten Blick ausgesprochen klassisch. Aber da ist
wieder die enorme Genauigkeit, mit der selbst die Nebenfiguren gezeichnet
sind, ist die so feine Gestaltung der Partien aus dem Text und der Aussage
der Musik. Altmeister José van Dam braucht als Alfredos Vater Germont, der
das Paar aus moralischen Gründen auseinander bringen will, gar nichts weiter
zu tun, um unmittelbar glaubwürdig zu wirken. Wie van Dam phrasiert und
weite Bögen zu gestalten weiss, ist nach wie vor exemplarisch. Allerdings
ist die Stimme unüberhörbar gealtert.
Zurückgegebene Würde
«Du wirst sie mögen,wenn du sie nur erst gesehen hast», sagt Alfredo zu
seinem Vater, die Szene zwischen Violetta und Germont lässt dies deutlich
spüren. Während die glitzernden Koloraturen des ersten Aktes ihre Sache
nicht unbedingt sind und die hohen Töne mit viel Vorsicht angegangen werden,
überwältigt Christine Schäfer in den intimeren Szenen als unwahrscheinlich
vielschichtige und zwischentonreiche Figur. Schade, dass Dirigent Sylvain
Cambreling (Marthalers bevorzugter musikalischer Partner) mit ihren Piani
nicht genügend mitgeht und ein paar die lyrische Grundstimmung unnötig
brechende Éclats herausstellen muss. Meist erweist er sich aber als
versierter, sängerfreundlicher Begleiter. Bei Violettas Schwindsuchtstod im
dritten Akt kehrt sich die Theatermetapher um. Hat sie ihre Arie noch im
Bett auf der Bühne gesungen, stehen dort nun alle andern. Alfredo streckt
seine Hand nach ihr aus, kann sie aber nicht mehr erreichen. Violetta ist
abgetreten, trotz ihrem Sinneswandel bleiben alle andern auf der Bühne des
Lebens gefangen. Marthaler hat auch hier jede Sentimentalität (die man in
Musik und Dramaturgie durchaus finden kann) vermieden und schafft es so,
diesem vielgehörten Stück und seinen oft abgenutzten Melodien Wahrhaftigkeit
und damit Würde zurückzugeben.
Wer das ausbuht, hat nicht verstanden, was Musiktheater sein will. |
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