NZZ, 18.6.2007
Peter Hagmann
La Traviata, Paris, Palais Garnier, 16. Juni 2007
Alles in bester Ordnung - oder fast
Giuseppe Verdis «Traviata» mit Christoph Marthaler und Sylvain Cambreling in Paris
Ein Kassenschlager wie Verdis «Traviata» mit dem Regisseur Christoph Marthaler - da droht Sturm. Tatsächlich führte die in jeder Hinsicht bemerkenswerte Premiere in Paris zu schriller Kontroverse.

Zur Garderobe geht man nicht im Palais Garnier; es empfiehlt sich schon deshalb nicht, weil sie viel zu klein und schlecht gelegen ist. Wenig erstaunt deshalb, dass das Personal an diesem abgeschabten Tresen zu den Klängen des Vorspiels, das vom Orchester der Pariser Nationaloper und seinem Dirigenten Sylvain Cambreling sehr langsam und feinfühlig exponiert wird, ziemlich Trübsal bläst. Die Zeit scheint aufgehoben in diesen neunundvierzig Takten, auch für die unscheinbare junge Frau mit dem roten Kruselhaar, dem schwarzen Babydoll und den klobigen Pumps, die auf dem Tresen hockt. Doch wie die üppig bestückte Banda auf der Hinterbühne mit ihrem Allegro brillantissimo e molto vivace einsetzt, kommt Bewegung in die Szene. Treffen die Damen und Herren ein, die zu der grossen Abendgesellschaft bei Violetta Valéry geladen sind, und wird Mantel um Mantel aufgetürmt, bis der arme Groom unter der Last zusammenbricht. Nur eine behält ihren Pelz an - weil sie unter dem edlen Stück rein gar nichts trägt: eine Wiedergängerin jener kämpferischen Umweltaktivistin, die mit solchen Aktionen in der Mailänder Scala zu Sant'Ambrogio das erlauchte Publikum zu erschrecken pflegte.

Verkörperungen

Nun, so kommt es heraus, wenn man, wie jetzt für die jüngste Produktion der Paris Nationaloper, den Regisseur Christoph Marthaler zusammen mit seiner Ausstatterin Anna Viebrock in den altehrwürdigen Hallen des Palais Garnier an einen Kassenschlager wie Giuseppe Verdis «Traviata» lässt. Da wird Christine Schäfer ungefähr zum Gegenteil jener Violetta Valéry, die Anna Netrebko bei den Salzburger Festspielen 2005 gegeben hat. Bleiben die Champagnerkelche leer und die Kehlen trocken, selbst beim «Brindisi», das der schüchterne Alfredo - Jonas Kaufmann lässt das sehr glaubhaft hören - nur unter Überwindung aller Furcht zustande bringt. Und während die Netrebko damals mit ihren Reizen spielte, von den Männern auf Händen getragen und dabei nach Massen begrapscht wurde, bricht hier in Paris die grossbürgerliche Festgesellschaft in absurde Zuckungen aus - der Choreograf Thomas Stache spart nicht an der Zeichnung dieser Degeneration. Doch dann geht es rasch zur Sache - und kaum je wird in einer Inszenierung von Verdis «Traviata» so deutlich spürbar, wie plötzlich hier der Umbruch von der lauten Öffentlichkeit ins private Drama erfolgt. Noch gibt es zwar jenen schmuddeligen Vorraum mit der kleinen Bühne schräg hinten, aber schon sind die Energien voll und ganz auf die gleich sehr innige, echte Beziehung zwischen den beiden jungen Menschen so unterschiedlicher Herkunft fokussiert.

Das wird mit aller Liebe aus- und durchgeführt. Gewiss sieht es in einzelnen Momenten nach szenischer Unschlüssigkeit und klassischem Rampensingen aus. In Wirklichkeit aber dominieren die musikalische Ausgestaltung und, in enger Übereinstimmung damit, die Feinarbeit der Körpersprache. «Un dì felice», das erste Duett der Liebenden, zeigt, wie flexibel Jonas Kaufmann mit seinem geschmeidigen Timbre umzugehen und wie sensibel er sich seiner Partnerin anzupassen vermag. Denn Christine Schäfer ist nicht nur physisch, sondern auch stimmlich alles andere als jene selbstbewusst aufbegehrende Violetta, die gewöhnlich vorgeführt wird. Ein zerbrechliches Wesen, körperlich gezeichnet, stimmlich zart. Den enormen Umfang der Partie bewältigt sie nach der Tiefe wie der Höhe hin grandios, die Diktion ist makellos, und wie sie den mit Pausen durchsetzten Einstieg in «E strano» phrasiert, zeugt von blendender musikalischer Intelligenz. Und Sylvain Cambreling, dem das Orchester aufmerksam folgt, erweist sich als ein maestro concertatore von Rang - als ein Dirigent, der die kleinsten Seelenregungen der Sänger aufnimmt, der darüber hinaus die Tempi vielfach gegeneinander abstuft und die Farben dergestalt auszeichnet, dass das Instrumentale weit über die reine Begleitung hinauswächst.

Und schon werden wir Zeugen des heiteren Landlebens. Hier gibt es einen hübschen Liegestuhl, nur: Könnte er nicht dem «Zauberberg» entstammen? Und auch hier gibt es Champagner, doch ist die Flasche abermals leer. Erhalten geblieben ist endlich die kleine Bühne; auf ihr wird ein Rasenmäher repariert - was nur auf den ersten Blick witzig ist. Denn das Gerät wird vollständig, bis auf seinen elektrischen Antrieb hin demontiert - so wie es Violetta Valéry widerfährt. Nun schlägt nämlich die Stunde von Recht und Ordnung, verkörpert durch Giorgio Germont, der von der fragilen Aussenseiterin den Sohn Alfredo zurückfordert. Der Einwurf «Pura siccome un angelo» lässt erleben, mit wie viel musikalischer Kultur José van Dam nach wie vor agiert. Nicht zu überhören ist allerdings auch, dass die Stimme des grossen Baritons inzwischen doch merklich an Glanz verloren hat - was hier wiederum zu besonderer Schlüssigkeit führt. Die dramatische Spannung erfährt dadurch eine Zuspitzung ganz eigener Art. Kein Wunder, dass Violetta zerbricht und aufgibt. «Che gli dirò?», fragt sie sich zu Beginn der Briefszene, in der sie Alfredo um den Abschied bittet. Wer es gesehen und gehört hat, wird es nie vergessen: wie Christine Schäfer zum ergreifenden Sextsprung der Soloklarinette die Hand vor die Augen schlägt.

Kontroversen

Zwar folgen dann noch der Moment der Unterhaltung, der Ball bei Flora Belvoix (Helene Schneiderman) mit den spanischen Stierkämpfern, die einen tiefen Einblick in machistische Schuhmode erlauben, sowie der dramatische Höhepunkt, an dem Alfredo der geliebten Violetta in voller Verzweiflung sein eben erspieltes Geld vor die Füsse wirft. Aber das Ende erscheint in dieser Inszenierung besonders unausweichlich. Und es wirkt besonders berührend, weil Christine Schäfer die Verletzlichkeit dieser jungen Frau - die gar nicht so sehr an Tuberkulose als an zerstörter Liebe zu sterben scheint -, die Fragilität der Gefühle und die Brutalität der gesellschaftlichen Hackordnung so unglaublich intensiv über die Rampe bringt. Rasch und lautlos sinkt ihre Violetta am Ende in sich zusammen; die anderen, auch Alfredo, sie stehen oben auf der kleinen Bühne und weinen ihre Tränen - unter ihnen Docteur Grenvil, dem Nicolas Testé in seinen zwei kurzen Einwürfen nachhaltig Stimme gibt. Womit die Ordnung wiederhergestellt wäre.

Und dann brach sie aus: die Saalschlacht, wie sie dort dazugehört, wo Gerard Mortier als Intendant das Sagen hat. Jubel ohne Grenzen für die Protagonisten, doch als Christoph Marthaler und Anna Viebrock die Bühne betraten, schienen die Wände des Palais Garnier einstürzen zu wollen - Sylvain Cambreling hatte sein Fett schon vorher abbekommen. Oper, die nicht bloss unterhält, sondern ganz direkt, ja existenziell ans Herz geht und erst noch den Geist beansprucht, kann nicht anders als Kontroversen auslösen. Besseres kann freilich auch nicht geschehen.






 
 
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