Opernwelt, Dezember 2007
Von Klaus Kalchschmid
Humperdinck: "Königskinder", Zürich, Premiere, 21. Oktober 2007
Leuchtend in eure Herzen gehen
«Königskinder» dirigiert von Ingo Metzmacher, inszeniert von Jens-Daniel Herzog am Opernhaus Zürich
Mit »Königskinder« hatte sich Engelbert Humperdinck nach dem Welterfolg von »Hänsel und Gretel« erneut eines Märchenstoffs angenommen, freilich eines solchen ganz anderer Art. Hatte »Hänsel und Gretel« aus der volksliterarischen Tradition geschöpft, so handelt es sich bei dem von Elsa Bernstein verfassten Libretto der »Königskinder« um ein reines Kunstmärchen, das Querbezüge zur Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs erlaubt. Erzählt wird die Geschichte einer Gänsemagd und eines Königssohns, die aus einem dem Wohlleben sich hingebenden sozialen Umfeld ausgestoßen werden (und zuletzt als Hungernde und Frierende an einem von der Hexe vergifteten Brot sterben). Zwar verlangt die Bevölkerung von Hellastadt nach einem neuen König; doch die Gefühlsinnigkeit der Gänsemagd und der Geistesadel, den der Königssohn repräsentiert, bleiben ihr fremd. Einzig Kinder und ein Spielmann erkennen in den Liebenden das Königspaar - die Rufe nach den Königskindern, mit denen die Oper verklingt, künden von einer unerfüllten Erlösungssehnsucht.

Natürlich, da mutet einiges wagnerianisch an. Und doch wurde Humperdinck, der als Richard Wagners Assistent tätig war, von den Wagnerianern gerade wegen der »Königskinder« als Abtrünniger angesehen. Denn in der ersten Fassung waren diese ein gebundenes Melodram, und gerade diese Kunstform hatte der Meister doch verworfen. Die Entstehungsgeschichte - die Opernversion wurde 1910 an der Metropolitan Opera in New York uraufgeführt - zeigt, wie sehr Humperdinck um eine eigenständige Form des Musiktheaters gerungen hat. Da mag das Orchester noch so wagnerianisch aufrauschen: Derlei Passagen münden immer wieder in einen volksliedhaft-schlichten Ton, der das Idiom des »Hänsel und Gretel«-Komponisten verrät (es findet sich auch ein ironisches Selbstzitat). Anklänge an Richard Strauss sowie impressionistische Farbtupfer werden von Humperdinck ebenfalls in ein charakteristisches Ganzes eingebunden.

Der Dirigent Ingo Metzmacher, der am Opernhaus Zürich debütierte, stellte die verschiedenen Aspekte dieser Musiksprache in ein helles Licht. Zu Beginn erschrak man zwar ob der Wucht, mit der das Orchester einsetzte - es schien, als ob Metzmacher sich noch nicht genügend mit der Akustik des Hauses vertraut gemacht hätte. Doch bald erwies sich diese Befürchtung als unbegründet. Denn da wurde mehr als dröhnendes Blech und bassschweres Dräuen geboten: Die lyrisch-zarten Abschnitte konnten mit schlankem Klang und feiner Artikulation erfüllt, daneben die rhythmischen Konturen geschärft werden, sodass selbst dort, wo das Tempo sich reduzierte, der Eindruck eines steten musikalischen Flusses entstand. Was die instrumentale Feinarbeit betrifft, so waren an der Premiere noch einige Ungenauigkeiten zu vernehmen, doch das Potenzial dieser Einstudierung stand außer Frage.

Wie Metzmacher im Musikalischen, so setzten der Regisseur Jens-Daniel Herzog und sein Ausstatter Mathis Neidhardt im Szenischen die verschiedenen Ebenen der Oper frei. Der Bühnenraum ist ein räumlich und zeitlich nicht festzulegender Ort: eine spitzgiebelige Halle, die zunächst an eine Schule, dann (beim Hellastadt-Akt) an eine Festhütte erinnert. In Hellastadt lebt eine konsumorientierte Fastfood-Gesellschaft, und der als Knecht (in Zürich als Putzmann) sich verdingende Königssohn bekommt zu spüren, dass ein rauer Wind weht, was das Zusammenleben der Menschen betrifft. Natur findet sich nur noch in zeichenhafter Form, als Schablonen (für die Gänse) und Topfpflanzen, die mit Preis- und Sonderangebotsschildern versehen werden. Das alles ist gekonnt gemacht, deutlich, zuweilen überdeutlich und auch etwas routiniert.

Doch wie anders wirkt die Aufführung im dritten Akt! Gänsemagd und Königssohn verirren sich in ein Irgendwo, das dank Jürgen Hoffmanns Lichtgestaltung atmosphärische Dichte gewinnt. Und hier sorgten Isabel Rey und Jonas Kaufmann nicht nur vokal für eine Sternstunde. Die beiden waren ein glaubhaftes, berührendes Paar, das in seinem Spiel feine Nuancen auszudrücken verstand. lsabel Rey zeichnete den Wechsel von naiver Selbstbezogenheit zu tragischer Mädchenliebe subtil nach. Die spanische Sopranisiin verkörpert seit 16 Jahren am Opernhaus Partien wie Gilda und Melisande, und sie ist nach wie vor in Mädchenpartien überzeugend, weil sie auf Schlichtheit und Zurückhaltung statt auf neckisches Getue setzt und ihre Stimme immer noch schlank und warm klingt. Die Gänsemagd liegt ihr besonders, denn die Rolle führt selten in exponierte Lagen, in denen Reys vokaler Liebreiz sich verringern könnte. Exquisit wirkten insbesondere die Pianotöne, etwa als die Gänsemagd zu ihren toten Eltern betet, und hervorragend war die Diktion der Sängerin.

Jonas Kaufmann gab den Königssohn - der Rolle entsprechend - etwas forscher und brachte in die Beziehung zur Gänsemagd ein Moment des erotischen Angezogenseins ein. Nach einer Phase, in der er sich dramatischere Partien anzueignen begonnen hatte und vokal etwas unsteter wirkte, befindet sich der deutsche Tenor offenkundig wieder in Topform - nicht nur sein Tamino in der »Zauberflöte« letzten Februar, sondern auch der Königssohn war ein eindrücklicher Leistungsausweis. Die Register erschienen gut verblendet, und entsprechend elegant gelangen die dynamischen Abstufungen - da gab es, eingebunden in eine differenzierte Phrasierung, melancholische Schattierungen ebenso wie metallisch glänzende Spitzentöne. Überdies hielten Kaufmanns dunkles Timbre und seine flexible Tongebung die Bestimmtheit und Jugendlichkeit, die beide in der Rolle angelegt sind, in faszinierender Balance.

Einprägsame Beiträge in kleineren Rollen gelangen Liliana Nikiteanu - einer Hexe mit sattem, gut kontrolliertem Mezzosopran -‚sowie Reinhard Mayr und Volker Vogel, die dem Holzhacker beziehungsweise dem Besenbinder das Profil egoistisch-opportunistischer Durchschnittsmenschen verliehen. Dass für die dritte der tragenden Partien -den Spielmann - keine Besetzung zur Verfügung stand, die den Möglichkeiten der Rolle gerecht geworden wäre, mag man da umso mehr bedauern. Oliver Widmer neigte eher zum Deklamieren als zum vollmundigen Singen und beließ vieles in der Andeutung. Gut machte der Chor seine Sache; eindrücklich auch der Kinderchor, der am Schluss szenisch große Präsenz gewann. -Einhelliger Beifall für den Dirigenten und die Sänger, wobei Jonas Kaufmann in der Publikumsgunst mit Recht zuoberst stand; kontrovers dagegen die Reaktionen beim Erscheinen von Regisseur und Ausstatter.
 






 
 
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