Berliner Zeitung, 06.12.2003
Wolfgang Fuhrmann
Berlioz: La damnation de Faust, Berlin ab 4. Dezember 2003
Mephistos Schnupperangebot
Den Rakoczy-Marsch über ein ungarisches Nationallied hat Hector Berlioz als eine Art Einstandsgeschenk für einen Besuch in Budapest komponiert. Weil er dort "Effekt" machte, so Berlioz in seinen Memoiren, wurde er in die Dramatische Legende "La damnation de Faust" op. 24 übernommen. Kritiker hielten ihm vor, Faust nach Ungarn versetzt zu haben. Aber darauf konnte Berlioz mit Recht erwidern, dass der Faust-Mythos zu den wunderlichsten Reiseabenteuern verführt.

Tatsächlich stellt sich die Frage anders. Nicht die Geographie ist das Problem des Rakoczy-Marsches. Das Stück macht Effekt, da hatte Berlioz gewiss Recht, und in der Aufführung mit den Berliner Philharmonikern am Donnerstag ließ es der Dirigent Charles Dutoit auch gewaltig dröhnen (mehr dazu später). Darüber hinaus ist die dramaturgische Funktion des Marsches nicht einzusehen. Aber gibt es denn überhaupt eine Dramaturgie? Nicht nur hier neigt Berlioz ja dazu, ein großes Werk aus Genrestückchen zusammenzusetzen. Es gibt einen Chor der Gnomen und Sylphiden, einen Tanz der Irrlichter, es gibt Bauern-, Soldaten, Studenten- und Säuferchöre. Das Faustdrama entwickelt sich über weite Strecken nur am Rande, im Rezitativ.

Berlioz hat Goethes Text mit der Freiheit des Künstlers als Material benutzt, das ist legitim. Aber der Teufelspakt findet erst knapp vor Schluss statt, so dass alle vorherige Willfährigkeit des Mephistopheles wie ein Schnupperangebot wirkt. Und weil ihm in der Pakt-Szene eine normale Rezitativbegleitung offenbar zu fade schien, hat Berlioz kurzerhand die Hörner einer vorbeiziehenden Jagd hineingepackt. Natürlich wollte er auch nicht auf die musikalischen Reize der Höllenfahrt verzichten, deswegen verdammt er ja den Faust. Weil aber der Himmel ebenfalls eine kompositorische Herausforderung darstellt, erlebt Margarete anschließend ihre "Apothéose". Kurzum, Berlioz lässt nichts aus.

Freilich gibt es hier auch interessante Momente, etwa durch die Montage verschiedener Zeitschichten: Das mähliche Erwachen des Frühlings und die raschen Bauerntänze sind auf demselben Puls komponiert, so dass ohne Wechsel des Tempos die Bewegung drastisch wechselt. Als Ganzes ist dieser "Faust" jedoch von einer so pappkulissenhaften Theatralik wie Eugène Delacroix Goethe-Lithographien. Man muss schon ein treuer Freund des 19. Jahrhunderts sein, um das Werk genießbar zu finden.

Der Rakoczy-Marsch, um zu ihm zurückzukehren, wirkte in der Aufführung sehr laut und schwungvoll. Man gewann jedoch den Eindruck, dass Dutoits Klangvorstellungen und die der Philharmoniker nicht ganz zusammenstimmen. Das Orchester bevorzugt einen weich einschwingenden Klangeinsatz, wo Dutoit es auf den Taktschwerpunkt losknallen lassen möchte; so geriet der Klang grob, und oft auch etwas ungenau. Nur in den ganz schnellen Passagen (Gnomen, Sylphiden, Irrlichter) fanden Dirigent und Orchester wirklich zusammen.

Jonas Kaufmann sang einen kraftvollen, aber unbeteiligten Faust, Willard White einen ausgesprochen schlecht gelaunten Méphistophélès, Ruxandra Donose eine klangschöne, aber von heftigem Vibrato geschüttelte Marguerite. Großartig im Einsatz der durch Kinder- und Schulchöre verstärkte Rundfunkchor Berlin in der Einstudierung Simon Halseys. Das begleitende Education Projekt machte sich beim Epilog im Himmel bemerkbar, als Scharen weiß gekleideter Kinder in die Philharmonie strömten. Das bloß Illustrative dieser stummen Engelschöre mag musikpädagogisch unnötig sein wie ein Kropf; aber dem Gesamteindruck des Abends setzte es das Sahnehäubchen auf.






 
 
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