Berner Zeitung, 12 .11. 2002
Norbert Graf
Fierrabras, Zürich, November 2002
Wenigstens kein Biedermeier im Kopf
Jubel für die Musiker, Buhrufe für die Regie: Schuberts Oper «Fierrabras» hatte am Sonntag in Zürich Premiere.
Was tun bei einer Geschichte, die dramaturgisch von Ungereimtheiten strotzt? Die Lösung ist so einfach wie zwingend: Man stellt den Komponisten selbst auf die Bühne und lässt die Zuschauer alles aus dessen Perspektive miterleben. Schubert - überzeugend Wolfgang Beuschel - inszeniert auf der Bühne seine Oper, führt seine Figuren ein und - wenns ihm passt - wieder ab. Der Komponist fühlt sich musikalisch denkend in seine Figuren hinein. Gedanken haben Brüche, machen Sprünge: sie sind traumhaft.
Fürs Publikum bedeutet dies Mehraufwand. Es erfährt nicht nur die Handlung der Oper, die sich um Krieg, Liebe und Freundschaft zur Zeit Karls des Grossen dreht, sondern es muss auch andere Wahrnehmungsebenen in dieses Bild integrieren: Schuberts eigene Welten, erstens die psychische in seinem Kopf und zweitens die reale in seinem Freundeskreis. So kommt es, dass die beiden kriegsführenden Herrscher nicht nur die Väter der Hauptfiguren der Oper sind, sondern sich auch Schubert mit seinem eigenen Vaterproblem darin spiegelt.
Dieses psychosurreale Durcheinanderwirbeln verschiedener Ebenen drückt sich im Bühnenraum aus: Im überdimensionierten Biedermeierzimmer mit riesigem Stuhl und Flügel nehmen sich die Sängerinnen und Sänger als beschränkt handlungsfähige Figürchen aus. Sie sind die Opfer der herrschenden Zustände, die ihren Utopien nachhängen.

Die inszenatorische Sichtweise von Claus Guth und Christian Schmidt musste sich vom Publikum Schelte gefallen lassen - wer will schon einen Abend lang an dieselbe biedermeierliche Tapete blicken, wenn musikalisch Schlachtengemälde und Idyllen gemalt werden?
Doch die Vorteile liegen auf der Hand. Unlogisches, wie das plötzliche Happy End, wird psychologisch nachvollziehbar: Schubert inszeniert persönlich seine Wunschvorstellung der Freundschaft. Und in dieser Sichtweise wird es unwichtig, ob die Handlung nun plausibel ist oder nicht. Durch die Fokussierung auf Schuberts Sicht der Dinge greift die Regie zwar massiv in die Dramaturgie des Werkes ein, doch öffnet sie ihm anregende Möglichkeiten für ein heutiges Verständnis.

Nicht zu diskutieren gibt hingegen die Musik: Schubert, der die zu seinen Lebzeiten nie aufgeführte Oper zur Zeit der «Schönen Müllerin» komponierte, erweist sich als psychologischer Gestalter erster Güte. Wohl niemand drückt das Gefühl, «nicht am richtigen Ort zu sein», musikalisch so überzeugend aus. Ebenso überzeugend gestalteten die Musikerinnen und Musiker die Vorlage der Partitur: Dirigent Franz Welser-Möst offerierte eine differenzierte und klangbewusste Lesart, die Schubert nicht einfach auf den Liederkomponisten zurechtstutzte. Einen starken Auftritt leistete der Chor des Opernhauses, der die Oper mitprägt.
Frische Jugendlichkeit ist bei den Protagonisten Trumpf, allen voran bei Joanna Kozlowska als Emma, Michael Volle als Roland und Jonas Kaufmann als Fierrabras. Stimmlich und darstellerisch dominant war Lászlê Polgár als Karl. Nur: Dass fremdsprachige Künstler in den gesprochenen Dialogen nicht voll zu überzeugen vermögen, lässt sich wohl nicht vermeiden.

 
Video capture: Fierrabras 2005/2006






 
 
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