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Zeit, 15. September 2021 |
Interview: Christine Lemke-Matwey |
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Jonas Kaufmann: "Man muss bei sich bleiben"
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Der große Opern- und Konzertsänger Jonas
Kaufmann über die Abgründe und Geheimnisse der Gesangskunst bei Liszt und
anderen. |
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DIE ZEIT: Herr Kaufmann, von
Franz Liszt heißt es, er sei ein Popstar des 19. Jahrhunderts gewesen. Auch
Sie beglücken die Öffentlichkeit zuweilen mit Homestorys und
Vanillekipferl-Rezepten. Fühlen Sie sich ihm seelenverwandt, so von Popstar
zu Popstar?
Jonas Kaufmann:
Darüber habe ich noch nie nachgedacht! Für mich ist Liszt nicht der
Salonlöwe oder der Wunderknabe bis ins hohe Alter hinein, dem die Welt zu
Füßen lag, sondern ein genialer Komponist – mit einem phänomenalen
Geschäftssinn, das ist schon klar. Was er an eigenen Schöpfungen alles
wiederverwertet hat! Und wie er seine kompositorischen Mittel dabei
entschlackt, wie das Wilde, Feurige, Fulminante der frühen Jahre mit der
Zeit zu einer tieferen Schwere findet, zu etwas Elegischem,
Zurückgenommenem, das imponiert mir sehr. Also Popstar, ja – allerdings
nicht, was seine Lieder betrifft. Die waren Misserfolge.
ZEIT: Melodien wie Es muss was
Wunderbares sein, die die Spatzen von den Dächern pfiffen, eine virtuose
Klavierstimme, meisterliche Texte – was war falsch?
Kaufmann: Die Räume! Schubert, Schumann,
Brahms, all die Großen haben Lieder für den Salon geschrieben, fürs
häusliche Musizieren. Deshalb waren sie auch so populär. Liszts Lieder
dagegen galten von Anfang an als so kompliziert und schwierig, dass sie den
Profis vorbehalten blieben. Und die traten eher in Konzertsälen auf, wo ganz
andere Genres angesagt waren, Solo-Klavierabende oder Besetzungen mit Chor
und Orchester. Ein Liederabend wäre in diesem Kontext exotisch gewesen.
ZEIT: Was ist für Sie als Sänger das
Schwierige an Liszt?
Kaufmann: Die
Musik ist gar nicht besonders sperrig oder schwergängig, anders als bei Hugo
Wolf übrigens, der vielen Hörern als "schwierig" gilt. Die Leute mögen es
nicht, wenn sie zu sehr mitkriegen, wie harmonisch oder rhythmisch vertrackt
ein Stück ist. Alles soll möglichst leicht und einfach klingen, das ist die
Aufgabe von uns Interpreten. Und natürlich wollte Liszt Virtuosität zeigen,
gerade in den frühen Liedern, dafür steht ja sein ganzes OEuvre. Die
Petrarca-Sonette zum Beispiel wollte ich als Student unbedingt singen und
habe es auch getan: chancenlos! Liszt erfordert ungemein viel Können und
Erfahrung. Warum ist ausgerechnet eines seiner untypischsten, simpelsten
Lieder wie Es muss was Wunderbares sein ein solcher Gassenhauer geworden?
Ebendeshalb! Wobei das fast tragisch anmutet: Da bemüht sich ein Komponist
um die größtmögliche Komplexität, feilt an opernreifen lyrischen Szenen –
und hat den größten Erfolg mit einem Volksschlager!
ZEIT: Liszt vertont Klassiker wie Goethes Über allen
Gipfeln ist Ruh oder Heines Im Rhein, im schönen Strome. Wie kriege ich als
Hörerin die berühmten Lieder von Schubert und Schumann auf diese Texte aus
meinem Ohr, um Platz für Liszt zu schaffen?
Kaufmann: Jedes Meisterwerk hinterlässt
in gewisser Weise verbrannte Erde. Liszt hat sich davor nicht gescheut, im
Gegenteil, und oft wird man bei ihm mit Feinheiten, Nuancen und Farben
belohnt, die die bekannteren Lieder so nicht kennen. Dass man sich in seine
Musik erst hineinhören muss, das hat er mit seinem Schwiegersohn Richard
Wagner gemein. Mit dem tun sich viele anfangs extrem schwer, und sobald sie
ihn besser verstanden haben, wird’s zur Sucht, dann will man immer mehr
davon und nur noch das. Wobei es bis zur Sucht bei Liszt wohl nicht geht.
ZEIT: Sie singen sehr erfolgreich
Wagner, zuletzt in diesem Sommer Tristan an der Bayerischen Staatsoper in
München. Sind Liszt-Lieder der richtige stimmliche Ausgleich für diese
Monsterpartie?
Kaufmann:
Nicht unbedingt. (lacht) Ich denke, man muss für sich im stillen Kämmerlein
eine Rechnung aufmachen: Wie viel Wagner pro Spielzeit darf ich mir
zugestehen, welches Repertoire, das meiner Stimme guttut, sollte ich
flankierend dazunehmen? Das darf natürlich nicht so weit gehen, dass ich nur
zur Stimmpflege 2000 Leute in den Konzertsaal bitte ...
ZEIT: Was tut Ihrer Stimme gut?
Kaufmann: Die Italiener. Die helfen mir
am besten, die Flexibilität und die Weichheit im Legato wiederzuerlangen.
Für Liederabende muss man immer frisch sein, die singe ich nicht zur
Erholung, da brauche ich die Erholung vorher. Auch so gesehen wäre Liszt
definitiv kein Kandidat zum Ausruhen, ähnlich wie Richard Strauss, dessen
Lieder sind auch sehr fordernd und intensiv. Was ich mag.
ZEIT: Was ist für Sie das Kräftezehrende
am Wagner-Gesang?
Kaufmann:
Eine Mischung aus vielem, die Länge der Partien, die Lautstärke des
Orchesters, die Konzentration. Man muss lernen, ressourcenschonend zu singen
und trotzdem durchdringend und stimmgewaltig aufzutreten. Zumal Wagner
selten die absolute tenorale Höhe verlangt, das macht es noch schwieriger.
Wenn das Orchester im italienischen Fach laut wird, sind die Gesangsstimmen
meist in der oberen Lage notiert, weil man davon ausgeht, dass die Sänger da
ohnehin laut singen und besser übers Orchester kommen. Bei Wagner ist vieles
auch in der unteren Hälfte des Registers laut. Da läuft man Gefahr, die
Stimme künstlich aufzublähen – und sich so die Höhe zu verbauen. Das ist
meiner Ansicht nach die große Krux am Tristan, der viele hohe Töne kennt:
Wer nicht weiß, wie man lange Phrasen legato singen kann, ohne sich
anzustrengen, der knickt im zweiten Akt ein und ist zu Beginn des dritten
Aktes so gut wie stimmtot, lange bevor die Figur auf der Bühne stirbt.
ZEIT: Gerade für
Tenöre hat Wagner viele Gemeinheiten komponiert. Absicht oder Unvermögen?
Kaufmann: Ich bin Wagner-Fan.
Gleichzeitig muss ich zugeben, dass er relativ wenig Ahnung davon hatte, wie
man eine Gesangsstimme führt. Bleiben wir bei Tristan und Isolde: Der erste
Akt ist ziemlich kurz, und Tristan hat zunächst nicht viel zu tun. Mit dem
Liebestrank aber ist er plötzlich da und bekommt richtig halsbrecherische
Phrasen in die Kehle gelegt, ganz blöd geschrieben, da kann ich mir
innerhalb von zwei Minuten die Stimme ruinieren, wenn ich das nicht ganz
klug anfange. Bevor die Partie richtig losgeht, bin ich unter Umständen also
schon kaputt. Das finde ich gemein. Oder das ewige Warten im Parsifal! Der
Kreislauf geht runter, die Stimme ist nicht mehr richtig durchblutet, und
schon tut man sich ordentlich weh. Die Wagner-Kunst besteht auch darin, den
Adrenalinpegel niemals absacken zu lassen. Und sie besteht darin, davon bin
ich zutiefst überzeugt, nicht nur textverständlich zu singen, sondern auch
klangschön. Wagner bewunderte die Belcantisten!
ZEIT: Für einen Heldentenor haben Sie
ein eher baritonales, dunkles Timbre. Ich habe in der FAZ ein tolles Zitat
gefunden. Da geht es um Partien wie Wagners Siegmund oder Bizets Don José,
die Ihnen besonders lägen, heißt es da, weil sie "einen starken
'subglottischen Druck' verlangen, besonders wenn das Modalregister um eines
kraftvoll-männlichen Klangs willen (zu) weit in die Höhe getrieben wird".
Was denken Sie, wenn Sie so etwas lesen?
Kaufmann: Herrlich! Wunderbar! Ich habe
in meiner Jugend viele gesangstheoretische Bücher gelesen,
Martienssen-Lohmanns Der wissende Sänger, solche Sachen, da wird mit
Fachbegriffen nur so um sich geworfen. Ich weiß, dass ich mit meiner Art zu
singen nicht nur Fans habe. Vielen Studenten wird heute gesagt, mach’s bloß
nicht wie der Kaufmann, der macht alles falsch. Bei meinem Erstengagement in
Saarbrücken ging nach einem Jahr buchstäblich nichts mehr. Meine Kehle war
zu weit oben, ich sang mit zu viel Druck, die Höhe klang knödelig, Tiefe gab
es keine, so ungefähr. Ich habe dann einen Lehrer kennengelernt, der hat mir
die Entspannung beim Singen beigebracht. Das ist für mich das A und O, bis
heute, denn mit dieser Technik, die auf alte italienische Gesangsschulen
zurückgeht, kann ich gefühlt endlos singen. Ich gehe in eine Vorstellung und
weiß: Zur Not könnte ich diese oder jene Partie auch zweimal hintereinander
singen.
ZEIT: Auch
Verdis Otello?
Kaufmann:
Den habe ich lange vor mir hergeschoben. Auch weil man als Tenor so viele
großartige Beispiele im Ohr hat und es am liebsten genauso machen möchte wie
das eigene Idol. Was der Grundfehler ist.
ZEIT: Wem von den großen Alten wollten
Sie nacheifern?
Kaufmann:
Ramón Vinay mit seinem satten Schokoladenton! Das habe ich in den ersten
Otello- Proben 2017 in London versucht und habe schnell gemerkt, es strengt
mich wahnsinnig an. Man darf seine Stimme nicht manipulieren, um sie einem
Ideal anzupassen, weder dem eigenen noch dem der Gesellschaft. Man muss bei
sich bleiben, modo suo, nur dann ist man frei, künstlerisch und stilistisch.
ZEIT: Für viele Sängerinnen und Sänger
ist die Corona-Krise eine Zwangspause, im existenziellen Sinn, aber auch
stimmlich. Wie ist es Ihnen ergangen?
Kaufmann: Da ich zwei Monate lang keinen Ton gesungen habe,
also wirklich keinen, auch zu Hause nicht, keine Übungen, nichts, hat sich
meine Stimme gut ausruhen können. Ich habe das Glück, dass ich sehr leicht
wieder zum Singen zurückfinde. Warum steht Plácido Domingo bis heute fast
jeden Abend auf der Bühne? Weil er als junger Sänger einmal nach einem
längeren Urlaub das Gefühl hatte, er kommt nie wieder an den Punkt zurück,
an dem er aufgehört hat! Die Stimme besteht ja nicht nur aus den
Stimmbändern, sondern auch aus der sogenannten Atemhilfsmuskulatur, den
Bändern, die den Kehlkopf halten, dem Zwerchfell, den Rückenmuskeln. All das
muss nach einer Pause wieder aufgebaut werden. Bei mir geht das in drei
Tagen. Gravierender fand und finde ich den psychischen Stress in der Krise,
die Unsicherheit. Wann geht es wieder los? Geht es wieder los?
ZEIT: Was wird sich nach Corona im
Musikbetrieb ändern, was muss sich ändern?
Kaufmann: Die Erfahrung, wie wichtig es
ist, aus dem Hamsterrad gelegentlich auszusteigen, möchte ich nicht missen.
Wobei mir klar ist, welchen Luxus das Hamsterrad auf der anderen Seite
bedeutet. Ich kenne etliche Kolleginnen und Kollegen, die von der Hand in
den Mund leben. Wirklich schockiert war ich darüber, wie lange die
Gesellschaft in der Krise die Kultur völlig vergessen hat! Als wäre sie
verzichtbar. Wer sind wir denn ohne Sprache, ohne Geschichte, ohne Kultur?
Unsere Kultur ist wie ein Baum, dem keine neuen Zweige mehr wachsen, wenn
ein alter abbricht. Und es sind einige abgebrochen. Das werden wir so
richtig erst in fünf oder zehn Jahren merken, wenn keine Talente mehr
nachwachsen. Doch dann ist es zu spät. Die junge Generation braucht positive
Signale, jetzt.
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