Welt, 24.11.2020
Von Dagmar von Taube, Manuel Brug
 
 
„Wir Sänger sind Geiseln unserer Agenden“
Jonas Kaufmann will mehr Spontaneität in seinem Leben: "Nicht alles akribisch zu planen, sondern der Lust und dem Können zu folgen"

Künstler zu sein verlangt, frei zu sein, davon ist Jonas Kaufmann überzeugt. In der Corona-Zwangspause musste der Tenor feststellen, dass nicht nur die Pandemie ein großes Problem ist. Ein Gespräch über den zerstörerischen Terminstress – und was er ändern will.

WELT: Sorgen Sie sich um Ihren Kontostand?

Jonas Kaufmann: Im März war der Schock groß, von heute auf morgen plötzlich arbeitslos zu sein und tatenlos zu Hause sitzen zu müssen. Einerseits habe ich es genossen, mal für mehrere Wochen, ja Monate mit meiner Familie vereint sein zu können, was ja in einem Sängerleben viel zu kurz kommt. Andererseits denkst du, die Uhr tickt, die Kasse leert sich. Ich frage mich, wie lange wir Künstler das durchhalten müssen. Es macht mir Angst. 90 Prozent in meiner Branche stehen am Existenzminimum, ohne Perspektive.

WELT: Wann rechnen Sie wieder mit einem geordneten Opernbetrieb?

Kaufmann: Davon scheinen wir weit entfernt. Ich habe gerade schweren Herzens meine Weihnachtstournee absagen müssen. Für mich kann ich von Glück sagen, dass ich noch vor Corona den Albumteil mit dem großen Orchester aufgenommen habe. Im Lockdown haben wir bei mir zu Hause dann noch die alpenländischen Stubenmusiktitel eingespielt, die wirklich stillen Stücke mit Harfe. Ich muss sagen, ich habe in den vergangenen Monaten eigentlich fast zu viel gemacht, Streamings, kurzfristige Open-Air-Konzerte, in der Angst, dass lange gar nichts mehr kommt. Ich stelle gerade vieles auf den Prüfstand.

WELT: Was konkret?

Kaufmann: Um was es in meinem Sängerleben wirklich geht. Wie werte und gewichte ich meine Karriere, beziehungsweise wie wichtig ist mir mein Privatleben, die Zeit mit meiner Familie. Da habe ich gerade in den vergangenen Monaten eine große Innigkeit erlebt, ohne immer ans Geldverdienen zu denken. Ich glaube, vielen Managern, die es gewohnt waren herumzujetten, geht es gerade genauso. Es kann durchaus schön sein, mal nichts zu tun. Die Existenzangst kommt früh genug. Ich überlege ernsthaft, ob ich das eigentlich noch mal will: mir meinen Kalender so vollzumachen.

WELT: Kommt diese Erkenntnis wirklich erst durch Corona?

Kaufmann: Jetzt kann ich es ja sagen, ich hatte eigentlich ein Sabbatical für jetzt geplant – ein Jahr mit nur wenigen Aufführungen, stattdessen ganz viel Freizeit. Von dieser Idee habe ich mich natürlich verabschiedet. Freizeit habe ich gerade mehr als genug – unfreiwillig. Irgendwo dazwischen liegt wohl die Wahrheit.

WELT: Das klingt ein bisschen desillusioniert. Hatten Sie keine Lust mehr?
Kaufmann: Muss ich alles, wirklich alles jetzt machen, oder gibt es vielleicht Rollen, die ich auch noch später gemütlich singen kann? Was würde mir überhaupt noch Spaß machen – noch mal „La Bohème“ zu singen, was ich ewig nicht gemacht habe? Ja! Und dann kam eben unverhofft ein Angebot, durch viele Absagen an der Bayerischen Staatsoper. Ich freue mich riesig. So etwas Kurzfristiges wäre mit einem normalen, über fünf Jahre vorgeplanten Kalender absolut unmöglich. Mein neues Zauberwort heißt Spontaneität.

WELT: Wollen Sie also das Operngeschäft revolutionieren?

Kaufmann: Stellen Sie sich einen Maler vor, der heute die Farben aussuchen sollte für ein Bild, das er in fünf Jahren malen soll! Der wird Ihnen einen Vogel zeigen. Künstler zu sein verlangt, frei zu sein. Nicht alles akribisch zu planen, sondern der Lust und dem Können zu folgen. Davon sind wir seit Langem weit entfernt in unserer Branche. Corona hat mir gezeigt, wie sehr wir Sänger Geiseln unserer Agenden sind. Das frustriert, die Motivation kommt abhanden. Ein Engagement, das ich vor Jahren zugesagt habe, weil es interessant klang, ist heute womöglich gar nicht mehr attraktiv für mich. Genauso besteht für ein Opernhaus das Risiko, dass eine Stimme, die man so lang im Voraus engagiert hat, entweder noch gar nicht an diesem Reifepunkt angelangt oder aber schon über ihn hinaus ist.

WELT: Ihr Vorschlag?

Kaufmann: Eineinhalb oder zwei Jahre im Vorlauf zu planen, erscheint mir vernünftig. Aber fünf Jahre, das ist absurd!

WELT: Wie oft haben Sie schon etwas aus Unlust abgesagt?

Kaufmann: Noch nie! Wenn ich einen Vertrag unterschreibe, muss ich die Suppe auch auslöffeln.

WELT: Was war denn mit Ihrem relativ kurzfristigen Ausstieg bei der Silvester-„Tosca“ in New York 2017, nachdem die Met bereits komplett ausverkauft war und Ihre Fans Sturm liefen?

Kaufmann: Na ja, das war ein spezieller Fall. Amerika ist wahnsinnig weit weg. Ich lebte damals in Trennung, und meine Kinder brauchten mich. So was weiß man eben nicht vorher. Ich habe damals viele Menschen enttäuscht, aber für mich war das wichtig. Ich glaube ja, dass das Publikum am Ende davon profitiert, wenn ich auch mal auf meine innere Stimme höre und absage. Bin ich nicht voll dabei, singe ich zwar als Profi, aber nicht so perfekt, wie ich könnte.

WELT: Wenn der Profi Jonas Kaufmann von tiefer Trauer singt, an was denkt er da?

Kaufmann: Es gab Phasen, in denen mir mein Beruf als schwierig und traurig erschien. Man ist so viel allein. In meinen Anfängerjahren in den 90ern habe ich zudem mit meiner Stimme zu kämpfen gehabt. Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt wechselt sich in meinem Beruf permanent ab. Erfolg, gefeiert werden – man erlebt einen enormen Adrenalinausstoß. Und eine halbe Stunde später sitzt man alleine mit einem Käsebrot vorm Fernseher im Hotelzimmer und pflegt seinen Kater von der Hochstimmung. Kein schönes Gefühl.

WELT: Moderieren Sie hier gerade Ihr Karriereende an?

Kaufmann: Nein, natürlich nicht. Irgendwann kommt sicher der Tag. Aber es ist nicht heute und nicht morgen, ganz bestimmt nicht. Dafür bin ich noch zu gern dabei.

WELT: Plácido Domingo steht mit 80 Jahren noch auf der Bühne. Ist das auch Ihr Plan?

Kaufmann: Ich kann die Leidenschaft verstehen, wenn jemand nicht von der Bühne runterzukriegen ist. In meinem Umfeld gibt es, glaube ich, genug Menschen, die mir freundlich oder weniger freundlich signalisieren würden: Jetzt ist genug.

WELT: Dann bleiben wir doch noch bei der Melancholie.

Kaufmann: Ja, Traurigkeit ist für einen Sänger ein wichtiges Gefühl. Bei dem Lied „Morgen“ von Richard Strauss muss ich jedes Mal während des langen Vorspiels an den Tod meines Vaters denken. Er verstarb mit 65 an den Folgen einer überraschenden Herzoperation. Ich war damals gerade in Regensburg bei den Proben zu meiner ersten Premiere „Eine Nacht in Venedig“. Ich konnte nicht weg. Später habe ich mich oft gefragt, ob das so wichtig war. Musste ich das wirklich machen? Ich hätte mich von ihm verabschieden können. Das Lied bringt diesen Schmerz immer wieder hoch.

WELT: Gibt es den traurigsten Akkord?

Kaufmann: Den Tristan-Akkord, natürlich. Ich bin ja zurzeit im Tristan-Studium und habe den zweiten Akt auch schon in Boston und New York gesungen. Die gesamte Oper kommt im nächsten Sommer in München. Für das Publikum ist es schier unerträglich, dieses Warten über drei Akte und viereinhalb Stunden bis zur harmonischen Erlösung durch die Musik. Als Sänger erlebt man es noch extremer, weil einen Wagner so todesverloren zappeln lässt. Dann endlich mit dem Schlussakkord erfährt man diese Auflösung. Dieses komische Etwas, das einen so sehr Sehnen lässt. Es ist fast zum Verrücktwerden.

WELT: Helfen Tränen beim Singen?

Kaufmann: Weinen bedeutet Kontrollverlust. Gott sei Dank aber ist Musik so stark. Mit Anja Harteros ist es mir ein paarmal passiert, dass mir so viel vokale Schönheit unter die Haut fuhr.

WELT: Auf der Bühne der große Liebesschmerz. Privat sieht man Sie jetzt in einer Doku beim Nudelkochen. Verzweifeln Sie manchmal an den Zumutungen der Moderne?

Kaufmann: Ich habe nicht das Gefühl, zu Höherem geboren zu sein. Ich kann mich sogar sehr gut in scheinbar Triviales verbeißen, wie etwa fünf Minuten vor Vorstellungsbeginn noch eine Garderobenschublade zu reparieren.

WELT: Wenn man gewohnt ist, mit Applaus auf großen Bühnen zu leben und einen Raum mit Aura zu erfüllen, wie überträgt sich diese Allüre in Ihren Alltag? Sind Sie auch Heldentenor im Supermarkt?

Kaufmann: Um Gottes Willen! Ich hoffe nicht, dass ich meine Bühnenpersona ins Privatleben mitnehme.

WELT: Auf der Opernbühne hat Ihre erste Frau Ihnen mal untersagt, das Hemd auszuziehen. Das würde die Kaufmann-Illusion zerstören!

Kaufmann: Na ja. Aber dass ich zu Hause affektiert schreite oder gestikuliere, das kann man wirklich nicht sagen.

WELT: Bei Ihnen zu Hause, man sieht es im Film, ist es sehr aufgeräumt, alles geordnet orchestriert.

Kaufmann: Nur fürs Fernsehen. Ich habe ja mit meiner zweiten Frau noch einen kleinen Sohn, Valentin, der gern alles durcheinanderbringt. Dazu gibt es die drei größeren Kinder, die Chips und auch mal Bierflaschen herumstehen lassen.

WELT: Wo leben Sie Ihre verwundete Künstlerseele aus?

Kaufmann: Ich flüchte auf mein Segelboot. An dem bastele und schraube ich nämlich gern herum. Ich lese viel, am liebsten in meinem Hängestuhl am Teich. Gerne Psychothriller, die richtig harten. Oder Krimis mit Lokalkolorit. Das ist für mich wie Urlaub, allerdings mit Toten. Aber das bin ich ja aus der Oper gewöhnt.

WELT: Eliette von Karajan hat ihrem Mann vor Auftritten häufig die Füße massieren müssen, erzählte sie einmal. Welche Assistenzdienste erwarten Sie von Ihrer Frau?

Kaufmann: Füße massieren gibt es bei uns nicht.

WELT: Sind Sie kitzlig?

Kaufmann: Ja, sehr. Aber ich muss auch nicht wie ein Dirigent stundenlang stehen. Bei mir ist die Lunge der Knackpunkt. Manchmal, wenn ich erkältet bin und sehr viel Dreck in meiner Lunge habe, den ich nicht loswerde, dann bitte ich meine Frau, mir den Rücken abzuklopfen, um es abhusten zu können. Das ist aber auch das Höchste der Gefühle.

WELT: Wer sind eigentlich Ihre Operngroupies?

Kaufmann: Das Gros ist älter und weiblich. In Wien oder München kann ich für gewöhnlich keine fünf Minuten durch die Innenstadt gehen, ohne angesprochen zu werden. Übrigens auch von jungen Männern, denen die Freundin dieses „geile Nessun-Dorma-Dings“ vorgespielt hat. Oder es sind 15-jährige Mädchen, die mal bei der Oma eine Arie von mir gehört haben.

WELT: Was war die obskurste Anmache?

Kaufmann: Eine hat mal geschrieben, sie sei doch die mit der Brille in der dritten Reihe und was wir denn wohl gemeinsam nach dem nächsten Konzert anfangen könnten. Ab und an schickt man mir auch die Schlüsselkarte eines Hotelzimmers. Neulich bekam ich sogar eine SIM-Karte, um über eine neutrale Nummer telefonieren zu können.

WELT: Früher regnete es noch rote Rosen für Pavarotti.

Kaufmann: Es wird noch besser! Ein Sängerkollege hatte mir als Münchner zum sehr patriotischen Last-Night-of-The Proms-Auftritt in London eine bayerische Boxershort geschenkt. Als dann bei der ersten Arie einige Dessous auf die Bühne flogen, habe ich die Shorts aus der Garderobe geholt, sie in den Hosenbund gestopft und dann draußen ins Publikum geworfen. Ich habe zu Hause meine Devotionalienkammer. Da gibt es ganz viele Porträts von mir, mir gewidmete Gedichtbände, selbst geschnitzte Holztassen, die Damenwäsche natürlich auch.

WELT: Gab es mal ein unmoralisches Angebot?

Kaufmann: Nein! Sagen wir so, es gab schon mal Angebote für seltsame Auftritte, aber von Oligarchenpartys halte ich mich fern. Okay, einmal habe ich es akzeptiert, mich von einer mir bekannten kanadischen Milliardärin, die sehr viel Geld für Kultur spendete, auf ihr Versailles-ähnliches Schloss bei Montréal einfliegen zu lassen, um nur für sie und ihren kranken Mann zu singen. Vor allem meine Kinder waren begeistert, weil sie dort Eisfischen durften!

WELT: Für wen würden Sie niemals singen?

Kaufmann: Auf einer Südamerikatournee sollte ich einmal für einen reichen kolumbianischen Sponsor auftreten, der sein Geld offiziell mit Bananen verdiente. Aber eben auch mit anderen Dingen in den Bananenkisten. Da habe ich dankend abgelehnt. Wenn jemand Zigmillionen bietet, sodass man sich danach zur Ruhe setzen kann, dann singt so mancher auch vor einem Autokraten. Ich lasse mich vor keinen Karren spannen.

WELT: 2017 sangen Sie in Wien Cavaradossi. Anfang dritter Akt: Das Publikum jubelte, worauf Sie Ihre Arie „E lucevan le stelle“ wiederholten. Als dann die Tosca auftreten sollte – kam sie nicht. Alles wartete eine gefühlte Ewigkeit. Die Vorstellung musste unterbrochen werden, weil Ihre Sopranistin verschnupft war, dass Sie ihr mit Ihrer Extraperformance die Show gestohlen hatten.

Kaufmann: Oh, mein Gott, ja. Drama, großes!

WELT: Sind Opernsänger die Neurotiker der Hochkultur?

Kaufmann: Wir sind Menschen, die permanent ihre Haut zu Markte tragen, und es gibt Momente, wo man sich schützen muss, sonst wird man gefressen. Tenöre gelten häufig als hysterisch. Aber auch Männer sollten natürlich keine Diven sein. Ich bemühe mich, nett zu bleiben, unterschreibe auch in den Pausen mal CDs, die mir Choristen und Statisten in meine Garderobe bringen. Ich verstehe es, wenn nervöse Kollegen dann die Türe verschließen. Schon sitzen sie in der Divafalle.

WELT: Gibt es noch diese Egokriege auf der Bühne wie bei jener berühmten „Turandot“, als Birgit Nilsson Franco Corelli ins Ohr gebissen hat, weil er zu laut sang?

Kaufmann: Das ist Vergangenheit, gebissen wird nicht mehr. Es versucht auch keiner mehr, den anderen zu überschreien. Ich kann auch laut, aber schöner ist leise.

WELT: Mit wem würden Sie nie mehr auftreten?

Kaufmann: Keine Namen, sonst kommt die Russenmafia! Ich würde viel lieber sagen, mit wem ich gerne aufgetreten wäre: Mit Renata Tebaldi. Oder mit Marilyn Horne, der großen amerikanischen Koloraturmezzo-Sopranistin. Die habe ich knapp verpasst. Bei ihren Aufnahmen bekomme ich Gänsehaut, genauso wie bei einem richtig schönen, schwarzen, saftigen Bass. Zum Glück gibt es jetzt Anita Rachvelishvili für das Mezzofach. Die hat wirklich eine Jahrhundertstimme!

WELT: Wie geht es denn Ihrer Stimme heute mit 51 Jahren? Sie klang doch mal besser. Haben Sie die Wagner-Partien strapaziert?

Kaufmann: Um das zu vermeiden, habe ich immer darauf geachtet, italienische und französische Opern mit Wagner zu mischen. Interessanterweise hört sie sich durch Corona wieder ausgeruht und frischer an. Die Pause ist wie eine Verjüngungskur. Meine Stimme ist heller, strahlfähiger geworden.

WELT: Sind Sie ein politischer Mensch oder sehen Sie sich in Ihrer Musikwelt eher wie ein Wesen eines eigenen Planeten? Wie nah kommen Ihnen Konflikte?

Kaufmann: Ich bin ein politischer Mensch. Ich bewundere Daniel Barenboim, der seinen Namen und sein Wirken häufig politisch einsetzt. Ich habe in der Lockdownsituation schon mehrfach angeboten, mit Politikern über die Lage der Künstler zu sprechen und aufzuklären.

WELT: Der Pianist Igor Levit twittert täglich seine politische Wetterkarte.

Kaufmann: Das stimmt.

WELT: Sie selbst sind kaum auf Social Media.

Kaufmann: Ja, ich nutze es als Werbe- und Kontaktportal für Fans. Tägliches Posten ist nicht mein Ding. Permanentes Parolenschreien finde ich lästig. Meine Fans und ich wollen auch nicht wirklich über die Konsistenz meines Morgenstuhlgangs diskutieren. Womöglich bin ich für diese Portale zu alt.











 
 
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