Die Zeit, 3.1.2013
MORITZ VON USLAR
 
Das Abc des Wagner-Sängers 
 
Der Tenor JONAS KAUFMANN hat im Gespräch mit unserem Reporter MORITZ VON USLAR einmal zusammengestellt, worauf es bei Wagner heute ankommt. Streng alphabetisch, vom hohen A bis zum Z wie Zigaretten
 

A-, das hohe
Für Tenöre ist normalerweise das hohe C der Gipfel, bei Wagner ist es das A. Der Heldentenor, der eine breite und kräftige Stimme hat, ist nicht unbedingt auch ein Ritter vom hohen C. Einen Ton im Zimmer zu erwischen heißt noch nicht, dass man ihn auch auf der Bühne singen kann. Beim hohen A fällt einem sofort der Lohengrin ein, von der Gralserzählung bis zum magischen »Elsa, ich liebe dich«.

B-elcanto
Man denkt sofort an Bellini, den Vorreiter des Belcanto, und nicht an Wagner: Sollte man aber, Wagner war ein großer Bellini-Verehrer! Und er predigte den Belcanto - Belcanto im Wortsinn: Schöngesang. Es soll eine Weichheit, Wärme, Schönheit im Klang entstehen. Da, wo Wagner für Sänger und Orchester piano oder pianissimo schreibt, muss man das versuchen. Ich verstehe mich, gerade im Wagner-Fach, auch als Belcanto-Sänger.

C-Ds
Die großen Studio-Einspielungen stammen aus den fünfziger und sechziger Jahren. Heute werden aus Kostengründen keine mehr produziert. Ein Drama? Nein. Schade? Natürlich. Die heutige Sängergeneration hat nicht dieselben Chancen wie damals.

D-eutsche, das
Zunächst mal: Ich bin Deutscher. Es macht einen Unterschied, ob man schon als Dreijähriger zu Hause Wagner hört oder nicht. Auf der anderen Seite hat das Deutsche bei Wagner immer einen schalen Beigeschmack: Der Missbrauch im »Dritten Reich« ist einfach nicht wegzudenken.

E-ule, die
Das wunderbare Traditionsgasthaus am Marktplatz in Bayreuth! Seit 1876, dem Gründungsjahr der Festspiele, trifft sich dort der harte Kern der Wagnerianer nach der Vorstellung. Wer will, kann an den signierten Künstlerporträts, die die Wände zieren, so etwas wie eine Krise des Wagner-Gesangs ablesen: Seit 1960 ist kaum ein neues Sängerbild hinzugekommen. Ob ich in der Eule hänge? Ich weiß es gar nicht.

F-orte
Den Zuhörern fallen im Lohengrin immer nur die lauten Stellen auf - das alte Wagner-Lied. Dabei schreibt er so oft piano und pianissimo! Wagner ist berühmt für sein Forte und wird unterschätzt für seine Piani. Dabei werde ich gerade auf die leisen Stellen im Lohengrin angesprochen: auf die »Taube« in der Gralserzählung und auf »Mein lieber Schwan«.

G-ralserzählung
Ein rätselhafter Text! In meiner Interpretation findet hier ein Umschwung statt: Aus Zorn und Anklage werden Scham, Depression und Verzweiflung. Lohengrin weiß, dass er selber Schuld trägt. Im Liebesduett hat er sich in seine Gefühle hineingesteigert, hat geprahlt und gedrängt, er wollte diese Frau unbedingt für sich einnehmen. Nun bedauert er, dass er das Volk nicht in den Krieg führen kann, aber er bedauert vor allem, dass er Elsa lassen muss. Es ist kein heldisches Stück. Die Trauer macht die Gralserzählung so zerbrechlich.

H-eldentenor
Wagner-Opern sind bevölkert von Helden: Siegfried, Tristan, Lohengrin. Uns interessiert heute nicht mehr so das Makellose des Heldenimages, sondern das Gebrochene. Ein Siegmund, der Inbegriff des Recken und Kämpfers, ist, wenn er in der Walküre vor Hundings Hütte erscheint, schlichtweg am Ende. Wenn er dann plötzlich so weich wird, schmachtet und von den Frauen erzählt: wunderbar. Wagner hat sich immer für den Menschen in seinen Heldenfiguren interessiert.

I-talianità
Da müssen wir gleich wieder vom Lohengrin sprechen: Das ist Wagners italienischste Oper. Hier sind alle Melodien lieblicher, weicher, umflorter, bis in die Chöre hinein. Auch Verdi hat gesagt: Sein Wagner ist Lohengrin. Ich habe mir viele Wagner-Aufnahmen auf Italienisch und Französisch angehört. Wie sehr diese Italianatà das Stück verändert! Ein Lohengrin, auf Italienisch gesungen, klingt wie eine italienische Oper.

J-oseph Alois Tichatscheck
Der Tenor, der zu Wagners Lebzeiten sang: Er soll über überirdische Stimmkräfte verfügt haben. Zum Meister selbst soll Tichatschek gesagt haben: »Lieber Richard, den Tannhäuser sing ich dir auch zwei Mal am Tag.« Tichatschek, so lautet eine These, soll Wagner dazu verleitet haben, das Leistungsvermögen seiner Sänger zu überschätzen, woraufhin er nach dem Rienzi und dem Tannhäuser einige Partien schrieb, die als unsingbar gelten.

K-onsonanten
Ein schwieriges Kapitel. Landläufig heißt es: Je deutlicher, härter, gespuckter die Konsonanten, desto besser versteht man den Text. Ausländer werden gedrillt, die Konsonanten zu spucken, denn das sei typisch deutsch. Mitnichten! Ein Konsonant darf natürlich nicht verschluckt sein. Aber: Je echter der Vokal, desto leichter ergänzt das Ohr den Konsonanten. Habe ich nur den Konsonanten, dann ist das nur ein »Wrzlpfrmpf«: Gespucke und Gegurre. Wagner aber hat sich gewünscht, dass sein Text auf seinen Harmonien perlt. Also Vorsicht bei den Konsonanten!

L-auritz Melchior
Die Tenorlegende des letzten Jahrhunderts, seine »Wälse«-Rufe in der Walküre (live 15 Sekunden lang!) sind unerreicht. Taugt er zum Vorbild? Der Däne soll den Spitznamen »das singende Sofa« getragen haben. Sicher waren die darstellerischen Anforderungen an einen Sänger zu seiner Zeit nicht so hoch wie heute. Da hat man toleriert, dass einer unbeweglich auf der Bühne stand, wenn er nur gut sang. Heute würde man das nicht mehr hinnehmen.

M-essa di voce
Hierbei geht es um die gesunde Mischung der Stimmfarbe, darum, die Stimme, die zwischen Bruststimme und Kopfstimme changiert, richtig zu platzieren, um den Ton an- und abschwellen lassen zu können. Im Wagner-Gesang von großer Wichtigkeit, vor allem in den rezitativischen Passagen.

N-ie sollst du mich befragen
Das berühmte Frageverbot im Lohengrin. Ich möchte es ganz einfach formulieren: Alles, was man verbietet,
reizt ganz besonders. Für Elsa muss das ein ziemlicher Schock sein: Sie hat sich diesen Mann, der für
ihre Unschuld eintritt, herbeigesehnt und fantasiert, sie war sicher, dass er sie retten wird. Und
nun steht der Schwanenritter vor ihr und sagt: »Dass du mich ja nicht fragst, wo ich herkomme!«

O-sink hernieder, Nacht der Liebe
Das Liebesduett im zweiten Aufzug des Tristan. Wobei der dritte Aufzug die eigentliche stimmliche Überforderung darstellt: unheimlich tiefgründig, psychologisch phänomenal interessant, aber kaum durchzuhalten. Der Tenor muss 50 Minuten am Stück singen. Es gibt keine Pause. Die Krux: Der Tristan muss beides haben, die stählerne, unverwüstliche Stimme für den dritten Aufzug - und die Weichheit für das Liebesduett.

P-iano
Der Kontrast zum Forte. Und nur ein wirkliches Piano lässt ein Forte richtig strahlen. Wagner ist, gegen alle Gerüchte, ein Komponist der leisen Stellen.

Q-ual, süße
Ein typisches Text-Paradoxon. Bei Wagner, dem genialen Wortschöpfer, bedeutet es: Vorgefühl des höchsten
Glücks der Zustand zwischen »nicht mehr« und »noch nicht«. Die Suche nach Erlösung. Die Musik dazu ist oft weder Dur noch Moll zuzuordnen.

R-eflux
Eine typische Sängerkrankheit. Ursache ist neben Stress und falschen Essgewohnheiten vor allem die sogenannte Hernie. Beim Singen wird das Zwerchfell stark eingesetzt. Dabei drückt es sich nach unten, quetscht Magen und Gedärme: Der Lunge soll möglichst viel Raum gegeben werden, um die Luftsäule, die sich zwischen Kehlkopf und Zwerchfell bildet, möglichst lang zu halten und einen möglichst großen Ton zu erzeugen. Dieses ständige Nach-unten-Drücken führt dazu, dass der Magenausgang sich zwischen dem Zwerchfellgeflecht nach oben schiebt. Das wiederum behindert den Ringmuskel, der die Speiseröhre zum Magen hin abschließt. Sodbrennen entsteht. Man kann das operieren lassen, was auf Dauer aber nichts bringt. Ich habe einen Osteopathen, der mir meinen Magen wieder an die richtige Stelle schiebt. Das ist zwar schmerzhaft, hilft aber.

S-ängerdämmerung
Die alte Klage, dass es keine brauchbaren Wagner-Tenöre mehr gibt. Also, ich weiß nicht. Wenn man Kritiken aus den vermeintlichen Glanzzeiten liest, heißt es da auch schon: Wir haben keine großen Stimmen mehr. Die Zeit, in der die Oper ein Straßenfeger war, ist vorbei. Vor dem Aufkommen von Kino und Fernsehen wurden Opernsänger ja wie Hollywoodstars gehandelt. Was ich viel wichtiger finde: Durch die Verstärkung des Orchesterklangs erleben wir eine Verschiebung in den Besetzungen. Der Mozart-Sänger von früher ist der Rossini-Sänger von heute, der Verdi-Sänger von früher ist der Mozart-Sänger von heute, der Wagner-Sänger von früher ist der Verdi-Sänger von heute. Was ist dann, um Himmels willen, der Wagner-Sänger von heute? Nicht die stimmlichen Kapazitäten fehlen - die Ansprüche sind enorm gewachsen.

T-extverständlichkeit
Das Geheimnis ist nicht nur, dass man deutlich singt und spricht; viel wichtiger ist, dass man wirklich weiß, was man singt, und das auch empfindet. Meine Erfahrung ist: In dem Moment, in dem ich den Text wirklich gestalte und empfinde, also ausfülle mit Emotionen, versteht man mich auch. Eine Ausrede für die mangelnde Pflege der Textverständlichkeit sind sicher die Übertitel, die heute in jedem großen Opernhaus mitlaufen.

U-nterleib
Man atmet immer in diese Richtung. »Singen mit dem Unterleib« oder »Singen mit Leibanschluss«, auch so ein altdeutscher Ausdruck, den ich klasse finde - das bedeutet, dass der ganze Körper zur Verstärkung des Klanges, der im Zwerchfell erzeugt wird, beiträgt. Singen mit dem Unterleib ist auch ein Interpretationskonzept: Der Ton klingt voller, männlicher.

V-erschleiß
Ein Naturgesetz. Ganz davor schützen kann sich kein Sänger. Es gibt Erschöpfungsanzeichen, die sich plötzlich bemerkbar machen: Man muss seine Stimme überreden, braucht morgens länger, um sich warm zu machen. Mein Konzept dagegen lautet, dass ich nach Wagner, gewissermaßen zur Erholung, immer wieder Mozart, Verdi und das klassische Lied gesungen habe. Das schlimmste Erschöpfungssymptom wäre, dass man abends keine Lust mehr hat, auf die Bühne zu gehen.

W-olfgang Windgassen
Der Inbegriff des Wieland Wagnerschen Heldentenors: eine Ikone des modernen Wagner-Gesangs. Schade,
dass es nur so wenige Filmdokumente mit ihm gibt, zur Beurteilung seiner Wirkung auf das Publikum reichen die Mitschnitte und Studio-Aufnahmen nicht aus. Menschen, die Windgassen auf der Bühne gesehen haben, schwärmen heute noch mit glühenden Wangen und Ohren.

X, das große
Dahinter verbirgt sich die Zukunft des Wagner-Gesangs. Man möchte heute das Gesamtkunstwerk sehen, also nicht nur Schöngesang, sondern den interpretierenden Sänger. Regie ist wichtiger geworden. Sänger beschäftigen sich mit jeder Textzeile, versuchen neue Zwischentöne zu entdecken. Daraus entsteht auch musikalisch eine neue Differenziertheit. Es geht mehr denn je ums Interpretieren statt ums Zelebrieren der Wagnerschen Musik.

Y-oga
Jeden Morgen, ganz sicher aber bevor ich meine Stimme anfasse, mache ich die Fünf Tibeter. Eine herrliche Erweckung von Atem, Körper und Geist.

Z-igarette
Meine letzte Zigarette ist lange her: Ende der Schulzeit, Anfang des Studiums. Baritone und Bässe stecken den Qualm offensichtlich besser weg als wir Tenöre. Der kürzlich verstorbene Dietrich Fischer-Dieskau hat sich vor jedem Auftritt eingeraucht: ein letztes Mal gezogen und raus auf die Bühne. Für mich haut das nicht hin. Meine Lunge verzeiht keine Zigarette.






 
 
  www.jkaufmann.info back top