profil: Der Legende zufolge seien Tenöre eitel und
dumm. Was hat es damit auf sich?
Plácido Domingo:
Dumme Tenöre? Kennst du welche?
Jonas Kaufmann:
Nein! Aber wir kennen natürlich alle Witze über sie. Schon um die
Pointen immer schon vorwegnehmen zu können. Und manche dieser Witze sind
wirklich lustig. Ich glaube übrigens, dass der einzige Grund, warum es
Tenorwitze gibt, darin liegt, dass wir Tenöre so gut damit umgehen
können. Die Baritone schaffen das nicht.
Domingo: Der Bariton
erfüllt, was der Tenor verspricht – schon wieder ein Tenorwitz. Wir sind
eben das, was im Orchester die Bratschisten sind. Irgendjemand muss als
Blitzableiter herhalten. Vielleicht sind wir robuster in dieser
Hinsicht, obwohl wir ja sonst als besonders fragil und zickig gelten.
profil: Haben Sie denn Allüren?
Kaufmann: Nur die üblichen. Wir müssen uns schließlich
zu schützen wissen. Aber man kann sich im Opernbetrieb heute Mätzchen
eigentlich gar nicht mehr leisten, man muss funktionieren, sonst gilt
man als schwierig.
Domingo: Ich fand Allüren
immer anstrengend, für mich und meine Umgebung. Also habe ich weitgehend
darauf verzichtet. Wenn man alle Bedingungen vorher klärt, kommt es
weder zu Tenorausfällen noch zu Tenorwitzen. Dann funktionieren alle und
haben sich gern. Hoffe ich jedenfalls.
Kaufmann:
Ich habe noch eine Erklärung für die Tenorwitze: Es gibt mehr Baritone.
Ein wirklich guter Bariton ist also wirklich fast schon der Beste der
Besten. Als Tenor müssen sie aber manchmal in der Not auch auf Leute
ausweichen, die nur Stimme und sonst nichts haben. Als Tenor kannst du
so Karriere machen, als Bariton wäre das wohl nicht möglich.
profil: Haben wir zu wenig Star-Tenöre?
Domingo: Wenn früher Franco Corelli für die „Tosca“
abgesagt hat, dann gab es noch Carlo Bergonzi, Richard Tucker, Giacomo
Aragall, Sándor Kónya und Luciano Pavarotti als prominente Einspringer.
Und was ist heute, wenn Jonas krank ist? Ich könnte nicht mehr
einspringen. Bei Verdi und Puccini sehe ich tatsächlich eine Wüste. Man
muss also nett zu Jonas sein und ihn besonders gut behandeln.
profil: Herr Kaufmann, können Sie sich erinnern,
wann sie Plácido Domingo erstmals gehört haben?
Kaufmann: Nicht wirklich. Wir hatten viele Opernplatten daheim,
meine Familie liebte klassischen Gesang. Und ich weiß noch, dass ich bei
meiner Großmutter eine Domingo-Kassette mit „Dein ist mein ganzes Herz“
und „Granada“ so lange gehört habe, bis sie nicht mehr funktionierte.
profil: Herr Domingo, können Sie sich erinnern,
wann Sie Jonas Kaufmann erstmals gehört haben?
Domingo: Ja, das weiß ich genau. Als wir 2004 in London waren,
gab es dort Puccinis „La Rondine“, eine Oper, die meine Frau selbst
schon inszeniert hatte. Da ging sie also hin, nur so aus Neugier, und
hörte erstmals Jonas. Dann hat sie auch mich hingeschickt, weil sie
meinte, der Mann sehe gut aus, er könne spielen, und Stimme habe er auch
noch. Natürlich habe ich als Direktor der Los Angeles Opera sofort
versucht, ihn zu engagieren, aber das ist mir bis heute nicht gelungen.
Immerhin hat er bei uns 2011 sein US-Liederabend-Debüt gegeben.
profil: Wobei ihm die deutschen Rollen naturgemäß
etwas leichter fallen als Ihnen.
Domingo:
Ja ich weiß schon, was jetzt kommt: mein Akzent! Aber schauen Sie, ich
hatte es wirklich schwer. Als Spanier muss ich immer in fremden Sprachen
singen, selbst Italienisch ist für mich nicht einfach; ich beneide
Jonas. Bei Wagner muss er über die Aussprache nie nachdenken. Ich finde
aber zum Beispiel Deutsch einfacher als Französisch. Aber ich würde gern
mal hören, wie Jonas eine Zarzuela singt – wahrscheinlich auch perfekt.
Kaufmann: Ich finde Deutsch schon auch sehr schwer.
Ich wäre froh, wenn ich dabei nicht nachdenken müsste, denn die
gesprochene Sprache unterscheidet sich stark von der gesungenen. Man
muss als Sänger anders artikulieren, damit es auf der Bühne richtig und
natürlich klingt. Deshalb finde ich oft, dass man fremdsprachige Sänger
im deutschen Repertoire besser versteht, weil sie sich mehr Mühe geben.
profil: Plácido Domingo ist inzwischen bei
seiner 145. Rolle angelangt. Zählen Sie auch schon Ihre Partien?
Kaufmann: Nein. Vielleicht tut es ja jemand für
mich. Was ich von Plácido gelernt habe: Neugierde ist eine der Wegmarken
einer langen, erfüllten Karriere. Ich möchte als Sänger nicht
stehenbleiben. Natürlich ist es schön und bequem, eine Zeitlang die
immer selben Partien zu singen, sich in ihnen einzurichten – aber dann
sehnt man sich doch auch nach anderen Rollen. Kein Sänger kann je alles
singen, was für seine Stimme geeignet wäre. Jede Karriere hat ihre
verpassten Gelegenheiten. Und natürlich sind neue Rollen die schönsten
Herausforderungen. Wer weiß, vielleicht wechsle ich auch mal zum
Bariton, die Farben dazu habe ich ja in der Stimme. Aber im Augenblick
ist das für mich noch keine Option.
Domingo: Ich
habe meine Rollen übrigens auch nie gezählt. Es gibt nur ein grünes
Büchlein, in dem jeder Auftritt und jede Besetzung eingetragen ist. Das
weiß ich, gestern beispielsweise war mein 3675. Auftritt! Dabei bin ich
kein Statistiker. Inzwischen bin ich Rekordhalter, was Bühnenpartien
betrifft, aber das ist nicht, was mich antreibt. Natürlich war es
schmerzlich und auch nicht immer freiwillig, sich von so vielen guten
Rollenbekannten verabschieden zu müssen, die mich verlässlich begleitet
haben. Doch ich kann inzwischen gut loslassen, nur von der Bühne selbst
mag ich noch nicht abtreten. Deshalb finde ich meine Reise ins
Bariton-Universum gerade so wunderbar, zugleich ein Privileg, auch da
noch stöbern zu dürfen. Ich weiß allerdings nicht, wie Jonas in der Lage
war, auf einer Tournee fast 40 Mal den Ferrando in „Così fan tutte“ zu
singen. Ich hatte den auch mal im Repertoire, fand ihn aber immer
unglaublich schwer.
Kaufmann: Das war schon
Wahnsinn. Allerdings hatte ich da nur zwei der drei Ferrando-Arien.
Natürlich ist es für einen erfahrenen Sänger schön und gesund, zu Mozart
zurückzukehren, aber für einen Anfänger kann das sehr gefährlich sein.
Man braucht eine gute, sichere und saubere Technik. Ich wusste nach
dieser Erfahrung, dass ich in diesem Beruf wohl überleben können werde,
auch wenn ich mit meiner Gesangsführung sehr zu kämpfen hatte.
profil: Sie haben beide gerade Verdi-CDs
eingespielt. Was bedeutet Ihnen dieser Komponist?
Domingo: Ich habe etwa die Hälfte meiner Karriere mit Verdi und
Puccini verbracht, und ich habe es gern getan! Er hat mir immer
gefallen, hat mich nie enttäuscht, er ist grundehrlich, fordert nichts
Unmögliches. Und dem Publikum gefallen seine Werke auch. Ich habe an die
20 seiner Opern gesungen und sämtliche Tenorarien – und jetzt wandle ich
auch auf seinen Baritonpfaden.
Kaufmann: Mit
solchen Zahlen kann ich nicht aufwarten, aber es sind einige neue
Verdi-Rollen in meinem Kalender, als nächstes kommt „Die Macht des
Schicksals“ im Dezember an der Bayerischen Staatsoper. Aber mir geht es
wie Plácido: Während ich Mozart-Rollen durchaus schwer zu bewältigen
finde, fällt mir das Verdi-Singen leicht. Man sollte freilich Erfahrung
haben; ein junger Tenor brüllt sich da gern fest. Und ich habe
festgestellt: Wenn ich zwischen einer Serie von Wagner-Aufführungen ein
wenig Verdi singe, ist das wie Öl für die Stimme. Bei Wagner oder
Puccini ist immer viel Emotion in der Begleitung, die Arien sind dann
nur noch ein Rezept, dem man folgen muss – wie ein perfektes Filmskript.
Verdi liefert die Melodie, aber man selbst muss sie mit Emotionen und
Persönlichkeit erfüllen, um sie zum Atmen zu bringen.
profil: Aber ist der Druck bei Verdi nicht höher, weil
jeder Zuhörer die berühmten Arien kennt?
Kaufmann:
Das stört mich nicht, das Publikum wartet immer nur auf eine bestimmte
Phrase oder auf den hohen Ton. Die Opern aber dauern Stunden, das kann
man nicht auf eine oder zwei perfekte Noten reduzieren. Nur ist es für
viele Sänger leichter, die hohen Noten des „Rigoletto“-Herzogs zu
produzieren, als einen Charakter zu gestalten. Aber letztlich geht es
doch um die Figuren, alles andere ist nur Artistik.
profil: Fühlen Sie sich als neuer Bariton nun entspannter,
Herr Domingo?
Domingo: Es gibt andere
Schwierigkeiten. Das Repertoire ist neu, und ich höre immer auch die
jeweiligen Tenorrollen in den Opern mit. Und ich musste lernen, mit
meinem Tenor-Timbre die Stimme nicht zu sehr einzudunkeln, sonst wird
man schnell müde. Es ist kurios: Ich war am Anfang meiner Karriere ja
Bariton, die Tenorlage musste ich mir hart erarbeiten, aber nun kann ich
nicht einfach so zurückkehren. Ich lerne jetzt also noch einmal die
Technik. Denn der tiefere Teil meiner Stimme ist auch der schwächere,
den muss ich stärken, muss mehr Druck ausüben und mehr mit Farben
spielen.
Kaufmann: Aber das lernt man auch schon
als Tenor: Es kommt immer auf das Register an. Das hohe A in der
„Fedora“-Arie „Amor ti vieta“ ist die höchste Note der sonst sehr tief
liegenden Partie. Und die ist dann auf einmal richtig schwer, schwerer
als manches hohe C.
profil: Welche
Gesangsfehler sollte ein Anfänger nicht machen?
Domingo: Ich gebe ungern Ratschläge, denn keine Stimme gleicht
der anderen. Und wenn Sie Jonas fragen, wie er ein hohes H produziert,
wird er Ihnen womöglich etwas ganz anderes erzählen als ich. Das
Einzige, was ich jungen Sängern, nicht nur Tenören rate: Passt auf, was
die Theater von euch wollen, und lasst euch nicht dazu verleiten,
falsches Repertoire zu singen. Doch welches das für euch richtige ist,
müsst ihr selbst herausfinden. Oder eben euer hoffentlich ehrlicher
Agent. Und dann höre ich immer: „Sie arbeiten doch selbst so viel, Herr
Domingo!“ Stimmt zwar, aber ich habe stets eine Grundregel beherzigt:
Zwei bis drei Tage Ruhe zwischen den Aufführungen sind einzuhalten. Und
besonders viel Ruhe am Tag davor. Man hat dann mehr Kraft und
Flexibilität. Eine Tenorstimme ist delikat, wir singen in einer
eigentlich verbotenen Region. Wir sind Zirkusartisten ohne Netz.
profil: Was denken Sie, Herr Kaufmann: Was sollte
man als Sänger gar nicht tun?
Kaufmann:
Ganz einfach: Singen, wenn man sich nicht gut fühlt. So schmerzlich das
Absagen auch ist. Da bin ich inzwischen sehr konsequent. Aber wenn ich
gut drauf bin und ein Kollege krank wird, habe ich auch schon den
Bacchus in „Ariadne auf Naxos“ und tags darauf den Rodolfo in der
„Bohème“ gesungen, das setzt erstaunlich viel Adrenalin frei. Eine
schlechte Aufführung aber kann nicht nur dem Ruf, sondern auch ernsthaft
der Stimme schaden. Und eine neue kann mir niemand geben. Mit
angeschlagener Stimme zu singen, das ist für uns der Killer Nummer eins.
Zu den Personen
Plácido Domingo, 72
Wohl nur er selbst weiß, ob er tatsächlich erst 72 Jahre alt ist, wie es
die offizielle Operngeschichtsschreibung will, oder ob er doch schon,
wie oft kolportiert, in Wahrheit 78 Lenze zählt. Mag auch sein ewiger
Rivale Luciano Pavarotti berühmter gewesen sein, kein Sänger hat jemals
so viele Rollen gesungen und Aufnahmen gemacht wie der in Madrid
geborene, in Mexiko aufgewachsene Plácido Domingo. Er debütierte 1959 in
Mexico City als Bariton, um in der Folge einer der berühmtesten Tenöre
der Welt zu werden. In seinem fünften Weltkarrierejahrzehnt ist Domingo
nun in die Baritonlage zurückgekehrt. Er dirigiert auch, leitet die Los
Angeles Opera und besitzt mehrere Restaurants.
Jonas
Kaufmann, 44
Der Münchner musste einige Jahre in der Provinz
warten, ehe sein Tenorstern richtig aufging. Seit 2005 hat er sich zum
meistgefragten Tenor der Welt entwickelt. Heute ist er als
Wagner-Sänger, im italienischen wie im französischen Fach, gleichermaßen
geschätzt. Der Vater dreier Kinder gastiert regelmäßig in New York und
Zürich, Wien und Berlin, Paris und Mailand, London und St. Petersburg,
Salzburg und Bayreuth, und er begeistert als Sänger ebenso wie als
intensiver Bühnendarsteller.