Solistenkonzert: Die schöne Müllerin
Tenor:
Jonas
Kaufmann
Klavier:
Helmut Deutsch
Di, 23. Oktober, 20.00 Uhr
Im Prinzip ist doch die Müllerin inhaltlich ähnlich tragisch wie die
Winterreise, dennoch wirkt die Müllerin auf den ersten Blick weniger
düster: warum?
Jonas Kaufmann: Bei der Winterreise herrscht
schon von Anfang an ein depressiver Grundton. Man hört gleich zu Beginn,
wie die Geschichte endet. Und das sollte man bei der Müllerin unbedingt
vermeiden. Die ersten Lieder der Müllerin sind für meine Begriffe
reinster Ausdruck von Lebensfreude, und so sollte man sie auch
darbieten. Der Bursche, der sich da auf die Wanderschaft macht, strotzt
doch vor Energie und Selbstvertrauen. Je besser es einem gelingt, diese
Stimmung zu vermitteln, desto stärker der Spannungsbogen, desto größer
die Fallhöhe, desto härter der Bruch. Deshalb bin ich auch nicht
einverstanden, wenn jemand sagt: Die Gedichte von Wilhelm Müller sind
primitive Texte, die Schubert durch seine Musik aufgewertet hat. Ich
denke, dass Schubert sehr wohl erkannt hat, dass diese scheinbare
Schlichtheit der Texte dazu dient, die Fallhöhe zu steigern.
Als„
erwachsener" Mensch muss einem dieser unreife Selbstmord aus unerhörter
Liebe doch recht merkwürdig vorkommen. Wie geht man mit einem Lied wie
Des Baches Wiegenlied um?
Jonas Kaufmann: Gibt es so etwas wie
einen „reifen" und „unreifen" Selbstmord? Ist es unreif, sich aus
unglücklicher Liebe umzubringen und reif, wenn ein unheilbar Kranker den
Zeitpunkt seines Endes selbst bestimmen will? Unerwiderte Liebe treibt
doch viele Menschen in Depressionen, und am Ende dieses Teufelskreises
scheint es als einzige Lösung - oder Erlösung - nur noch den Freitod zu
geben. Und ich finde, Des Baches Wiegenlied sollte man keinesfalls mit
der Distanz des Vernunftmenschen singen, nach dem Motto: ,Wegen so was
bringt man sich doch nicht um!", sondern mit der Empathie eines
Menschen, der die tiefe Verzweiflung des Müllersburschen nachfühlen
kann.
Inwieweit versucht man bei Strophenliedern wie Des Baches
Wiegenlied oder Das Wandern jede Strophe anders zu gestalten, wieweit
verlangt man dies vom Pianisten?
Jonas Kaufmann: Grundsätzlich
finde ich, dass es ja gerade die besondere Anforderung in Schuberts
Strophenliedern ist, jede Strophe anders zu gestalten. Das ist eine
reizvolle und große Aufgabe und zugleich ein großer Freiraum, den man
unbedingt nützen sollte, sonst wird es ganz schnell eintönig. Denn
anders als oft verstanden gelten die dynamischen Bezeichnungen Schuberts
immer nur für die erste Strophe, danach gilt es, sich selbst mit
einzubringen. Natürlich geht solche Gestaltung immer Hand in Hand mit
dem Partner am Klavier. Und nie bei jeder guten Partnerschaft geht es
hier nicht darum. etwas „zu verlangen", sondern gemeinsam eine Lösung zu
finden, mit der beide leben können. Im Idealfall geschieht das ganz
intuitiv, ohne lange Diskussionen.
Wie viel steht bei Schubert
zwischen den Zeilen?
Jonas Kaufmann: Sehr viel! Oft führt die
Klavierstimme aus, was im Text nur angedeutet wird, manchmal führt sie
auch den Gedanken weiter oder stellt das Gesagte in Frage.
Was
sagen Sie zur Aussage vom Komponisten Nali Gruber, dass bei Schubert
erste Tendenzen von Minimal Music zu entdecken sind - dass Schubert
innerhalb eines Liedes oft mit sich ständig wiederholenden Pattern
arbeitet?
Jonas Kaufmann: Ob diese Muster als „erste Tendenzen
zur Minimal Music" zu betrachten sind, müssen Musikwissenschaftler
entscheiden. Schubert ist jedoch, wie ich finde, generell eher ein
Freund von ,weniger ist mehr", beim Wegweiser in der Winterreise
beispielsweise reduziert sich der Klavierpart immer mehr, bis sich ein
einziger Ton permanent wiederholt, sozusagen die Richtung weist. Ich
kann mir vorstellen, dass es auch schon lange Zeit vor Schubert solche
Muster gab. Bei Schubert jedenfalls empfinde ich dieses Wiederholen von
„Mustern" oft auch als Ausdruck der Gedanken, die dem „lyrischen Ich"
immer wieder im Kopf kreisen wie eine tibetanische Gebetsmühle. Gedanken
über Dinge, mit denen man nicht fertig wird, wie zum Beispiel die Frage
nach dem Sinn des Lebens.
Wo genau liegt die Schwierigkeit beim
Zyklus Die schöne Müllerin? In technischen Aspekten, in
interpretatorischen Fragen?
Jonas Kaufmann: Gesangstechnisch und
interpretatorisch ist die Müllerin sicher nicht weniger anspruchsvoll
als die Winterreise. Die besondere Schwierigkeit der Müllerin liegt für
mich darin, dass man nicht zu jung und nicht zu alt sein sollte, wenn
man sie singt. Wenn man zu jung ist, fehlen einem bestimmte
Lebenserfahrungen, um die Inhalte glaubhaft darzustellen. Und wenn man
zu alt ist, glaubt einem der Zuhörer nicht mehr den unbekümmerten
Müllersburschen. Neben Schumanns Dichterliebe ist die Müllerin der
Liederzyklus, der am meisten nach einer jungen Stimme verlangt - und
auch nach einer jungen Seele. Es geht hier ja um einen jungen Menschen,
der frisch und fröhlich, völlig unbekümmert in die Welt hinauszieht -
und dann mit voller Wucht ins Messer rennt. Seine unglückliche liebe zur
Müllerin ist seine erste schmerzvolle Erfahrung. Und damit diese
„Unschuld" einigermaßen glaubhaft wirkt, sollte der Interpret nicht
allzu reif klingen.
Versucht man im Lied Am Feierabend drei unter
schiedliche Stimmen zu wählen, also Müllergeselle, Müller und Tochter
oder wäre das manieristisch?
Jonas Kaufmann: Nicht so extrem
unterschiedliche Stimmen wie im Erlkönig, aber doch unterscheidbare
Farben. Aber das hat Schubert schon so notiert, dass man da wenig
„nachhelfen" muss, nehmen Sie zum Beispiel die tiefe Lage des Müllers
bei der Phrase: „Euer Werk hat mir gefallen."
Kaum ein Sänger
wird innerhalb des Zyklus unterschiedliche Transponierungen wählen: also
z B. erstes Lied aus der Ausgabe für mittlere Stimme, 2. Lied Ausgabe
tiefe Stimme, 3. Lied eigene Transposition etc. ... warum? Man könnte
sich doch jedes Lied für die eigene Kehle zurechttransponieren?
Jonas Kaufmann: Das könnte man schon, aber dann wäre die Architektur des
Zyklus zerstört.
Würden Sie die Müllerin in einem großen Haus wie
die Staatsoper anders singen als in einem kleineren Saal, wie bei der
Schubertiade zum Beispiel?
Jonas Kaufmann: Das hat weniger mit
der Größe des Raumes zu tun als mit den besonderen akustischen
Gegebenheiten. Große Räume verführen dazu, „mehr zu geben"; da braucht
es schon einige Erfahrung, um einschätzen zu können, ob die Stimme noch
bis in den fünften Rang kommt oder nicht. Jeder, der zum ersten Mal auf
der Bühne der Met steht, sieht diesen riesigen Zuschauerraum und denkt:
„O Gott, den soll ich mit meiner Stimme füllen?" Aber wenn die Stimme
gut trägt, muss man dort nicht mehr geben als an anderen Häusern. Das
habe ich nicht nur bei Opernvorstellungen gemerkt, sondern gerade auch
bei meinem Liederabend an der Met: Ich hatte das Gefühl, dass auch der
kleinste Ton in diesem Haus noch trägt. Die tollste Akustik soll ja das
Teatro Colón in Buenos Aires haben, wo ich leider noch nicht gesungen
habe. Nach Aussagen vieler Kollegen soll dort das feinste Piano noch im
letzten Winkel so präsent klingen, als wäre der Sänger nur wenige Meter
entfernt.
Wünschen Sie als Liedsänger grundsätzlich ein
bestimmtes Klavier ... Bösendorfer, Steinway bzw. inwieweit verändert
das vorhandene Instrument die Interpretation? Haben Sie schon als
Begleitinstrument ein Hammerklavier gewählt?
Jonas Kaufmann:
Helmut Deutsch, seit vielen Jahren mein Partner am Klavier, spielt schon
sehr lange nur mehr auf Steinway. Ich finde es musikhistorisch durchaus
interessant, Aufführungen mit Hammerklavier und dazu passender Literatur
zu veranstalten, einfach um zu erfahren, wie die Musik zu Zeiten
Schuberts geklungen haben muss. Jedoch bin ich fest davon überzeugt,
dass ein Schubert, hätte er die Wahl gehabt, sich für den heutigen
Flügel entschieden hätte. Die dynamischen Möglichkeiten sind einfach um
so vieles reicher. Trotzdem hat das Piano forte, wie der Name schon
impliziert, eben auch die Fähigkeit, bei entsprechender „Handhabung"
annähernd an den zerbrechlichen Klang des Hammerklaviers zu kommen.
Weitere Argumente für das moderne Instrument sind sicher die heutige
Hörgewohnheit und die Tatsache, dass eben auch das Hammerklavier eine
Weiterentwicklung mit Zwischenstufen vom Cembalo über Clavicord ist und
ebenfalls klaglos als das Bessere von den Komponisten angenommen wurde.
Schließlich diente das Hammerklavier auch nicht dazu, große Konzertsäle
zu füllen, sondern war zur Haus- bzw. Kammermusik entwickelt worden.
Es gibt Sänger, die sagen, dass man bei einem Liederabend im
Gegensatz zur einer Opernvorstellung einen emotionalen Kontakt zu den
Zuhörern aufbauen muss. Teilen Sie diese Meinung?
Jonas Kaufmann:
Den emotionalen Kontakt zum Publikum müssen Sie immer aufbauen, bei
einer Opernvorstellung genauso wie bei Liederabenden und Konzerten. In
einer Opernpartie ist es oft einfacher, da können Kostüm, Maske,
Darstellung, Orchester und Partner sehr helfen. Beim Liederabend fällt
das alles weg, da ist man zu zweit für die gesamte Veranstaltung
verantwortlich und kann nichts überspielen oder kaschieren. Andererseits
führt diese Situation auch oft dazu, dass man ganz schnell den direkten
Draht zum Publikum bekommt: Man ist total exponiert, es gibt keine
Ablenkung, alles konzentriert sich auf diese zwei Menschen, die zusammen
musizieren.
Ein emotional mitgebendes Publikum kann auf einen
Sänger während einer Opernvorstellung „anfeuernd" wirken, aber ist dies
bei einer Müllerin, bei einer fertigen Interpretation, auch gut bzw.
überhaupt möglich?
Jonas Kaufmann: Das ist sehr wohl möglich. In
der Oper sind die Reaktionen des Publikums oft deutlicher zu spüren, zum
Beispiel wenn bei einem tollen Ton oder einer besonders gut gelungenen
Phrase eine kleine Welle durchs Publikum geht. Beim Liederabend sind die
Reaktionen meist feiner und differenzierter, doch sehr wohl spürbar. Die
schönste Rückmeldung für einen Sänger ist es, wenn das Publikum
gebannt zuhört und sich nicht zu bewegen traut oder wenn es nach einer
Liedgruppe einen Moment lang still bleibt. Was die „fertige
Interpretation" betrifft: Für meine Begriffe kann sie niemals „fertig"
sein. Nicht nur, weil man mit derart vielschichtigen Stücken wie der
Müllerin niemals fertig wird, sondern weil so eine Reise durch die
Gefühle immer wieder neu erlebt und neu empfunden werden muss und sich
dabei jedesmal etwas verändert darstellt. Und als Sänger und Interpret
entwickelt man sich ja hoffentlich auch immer weiter. Selbst bei einer
Opernproduktion in unveränderter Besetzung sollte ein Rollenportrait nie
nur eine Wiederholung des einmal Erarbeiteten sein. Seit Cosi fan tutte
mit Giorgio Strehler versuche ich, bloßes Reproduzieren zu vermeiden.
Strehlers Credo war, die szenische Aktion jeden Abend neu zu erfinden.
Natürlich muss man sich ein Grundgerüst erarbeiten. Aber wenn man das
einmal getan hat, dann sollte man frei genug sein, am Abend spontan zu
reagieren - auf den Dirigenten, auf die Partner, auf die Stimmung im
Saal. Das habe ich von Strehler gelernt, und das war für mich eine ganz
wesentliche Erkenntnis, die ich seither nie aus dem Blick verloren habe.