Freie Presse, 23.11.2022
Torsten Kohlschein
 
Startenor Jonas Kaufmann im Erzgebirge - Hinter den Kulissen der ZDF-Heiligabend-Sendung
Ein Millionenpublikum wird an Heiligabend in der St. Annenkirche in Annaberg-Buchholz zu Gast sein. Dort wurde dieser Tage für das ZDF ein großes Weihnachtskonzert mit zahlreichen musikalischen Gästen produziert
 
Wer dieser Tage die St. Annenkirche in Annaberg-Buchholz besuchen will, der wird mit an den Klinken der Eingangstüren klebenden Zetteln deutlich darauf hingewiesen, dass das Gotteshaus geschlossen ist. Wer sich Dienstagnachmittag dennoch davon nicht abhalten lässt, den Nordeingang zu dem spätgotischen Bau zu benutzen, gelangt zwar hinein. Die Hoffnung auf einen Moment kontemplativer Einkehr kann er sich allerdings gleich abschminken. Es geht zu wie in einem Ameisenhaufen. Zahllose Frauen und Männer mit Klemmbrettern, Requisiten oder technischem Gerät, einige mit Headsets verdrahtet, alle mit wichtigem Gesichtsausdruck, sind unterwegs. Über den vorderen Bankreihen rechts ist ein Kamerakran installiert, weitere TV-Kameras stehen herum. Dutzende Scheinwerfer sind in den Emporen befestigt, in den Vorsprüngen der achteckigen Säulen, die das Gewölbe tragen, lehnen funksteuerbare farbige, nach oben strahlende LED-Lichter, die aussehen wie unbedruckte Getränkedosen. Der Altarraum ist dekoriert wie ein Kaufhausfoyer zur Adventszeit, Tannenbäume im Festschmuck ragen rechts im Altarraum in die Höhe, links dahinter eine elektrisch illuminierte Pyramide, unter den Bäumen Geschenkattrappen in Papier und Schleifchen. Links ein Orchesterpodium mit Stühlen, vor den ersten Sitzreihen zwei LED-Monitore im Wohnzimmer-Großformat. Eine minimalistische Folge aus einzelnen, ungetakteten Klaviertönen, die nach und nach im Intervall kleiner Sekunden höher werden, prägt über dem Basston der wimmeligen Betriebsamkeit die Geräuschkulisse: Da stimmt jemand einen Flügel.

Was man hat, das hat man
Der Aufwand, der hier augenscheinlich in den vergangenen Tagen und Wochen getrieben worden ist und noch wird, kommt nicht von ungefähr: Am Mittwoch sollte in St. Annen für das ZDF die große Musiksendung "Weihnachten mit Jonas Kaufmann" aufgezeichnet werden, die Heiligabend ausgestrahlt wird. Am Vortag ist die Generalprobe. Anders als tags darauf ohne Publikum. Aufgezeichnet wird dennoch - Nahschüsse, auf denen man nicht sieht, dass die Bankreihen leer sind. Was man hat, das hat man, wie Redakteur Martin Schneider erklärt: "Wir machen diese Sendung dieses Jahr zum dritten Mal, und das erste Mal ist es ohne Corona-Beschränkungen", so der Drehbuchautor der Sendung. Er freut sich nach eigenen Worten sehr darüber, dass der Startenor Jonas Kaufmann seit dem Start 2020 dieses Sendeformat immer mehr zu seiner persönlichen Sache gemacht hat. Er redet beim Musikprogramm mit, zu dem auch Auftritte von Diana Damrau, Rebekka Bakken, René Pape sowie vom Kinderchor des Evangelischen Gymnasiums Erzgebirge gehören. Kaufmann führt das Publikum mit Teleprompterauf deutsch und englisch durch den Abend, inklusive ausgiebiger Würdigung des Erzgebirges und des gastgebenden Gotteshauses. Und er singt selbstverständlich auch.

Das stumme Orchester dirigiert - niemand
Begleitet wird er dabei in Annaberg-Buchholz von einer kleinen Besetzung der Erzgebirgischen Philharmonie Aue - zumindest optisch. Denn wie seit Jahrzehnten im Fernsehen üblich, ist Vollplayback bei TV-Produktionen bis auf den heutigen Tag das Mittel der Wahl. Und so perfekt die Illusion auch ist, die hier von zahllosen Mitwirkenden vor und hinter der Kamera generiert wird, an einer Stelle ist sie es dann doch nicht: Stimmt Startenor Kaufmann etwa nach einem ausgedehnten Streichervorspiel den Klassiker "Es ist ein Ros' entsprungen" an - oder besser, bewegt er die Lippen dazu - , steht vor dem stumm musizierenden Orchester nicht etwa Generalmusikdirektor Jens Georg Bachmann, sondern - niemand. Aus rechtlichen Gründen. Denn Bachmann hat die eingespielte Musik, zu der Streicher und Bläser Bögen und Klappen bewegen, bei deren Aufnahme ja nicht dirigiert.

Eine Frage der Solidarität
Zugegen sind Bachmann und sein Chef, Intendant Moritz Gogg vom Winterstein-Theater, bei der Generalprobe und tags darauf gleichwohl. Ersterer, weil sich das Orchester unter seiner Leitung laut Drehbuch live mit einem Instrumentalwerk präsentiert - einem Arrangement des baskischen Weihnachtsliedes "Gabriels Botschaft" mit dem britischen Cellisten ShekuKanneh-Mason als Solisten. Zugleich stehen Theater- und Orchesterchef nebst Orchestermanagerin Elena Jossifowa den Musikern als Ansprechpartner zur Verfügung. Gogg dazu: "Es ist für mich eine Frage der Solidarität, hier zu sein."
Die ist auch nötig: Mit Einbrechen der Dunkelheit sinkt die ohnehin außerhalb der Wohlfühlzone liegende Temperatur in dem Sakralbau noch einmal deutlich. Das sieht man sogar: Tut Jonas Kaufmann so, als singe er, entsteigen seiner goldenen Kehle kleine Dampfwölkchen. Der unter den Orchesterstühlen verlegte Heizteppich wirkt nicht wie erwünscht. Kurz und schlecht: Die Musiker tun kund, sie frören, sodass man ihnen kurzfristig anbietet, sich in der beheizten Brautstube links vom Foyer der Kirche aufzuwärmen, so lange man sie nicht braucht.

Ein Startenor in langen Unterhosen
Dieses Privileg hat Kaufmann nicht. Eine Assistentin legt ihm regelmäßig in Drehpausen seine Wattejacke um die Schultern; im lockeren Gespräch mit Bachmann und Gogg, die jeder für sich schon früher mit dem Tenor zusammengearbeitet haben, erklärt er, er habe da schon viel Schlimmeres erlebt. Eine lange Unterhose habe er gleichwohl auch für diesen Auftritt angezogen.

Er wird sie noch brauchen: Allein bis die Aufnahmen des 53-Jährigen Sängers mit dem Orchester am Dienstag im Kasten sind, wird es bis 22 Uhr dauern. Und dann ist der Abend noch lang nicht vorbei. Tags darauf heißt es dann: "Noch einmal, bitte!" Diesmal vor Live-Publikum.
















 
 
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