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Die Presse, 20.06.2016 |
von Wilhelm Sinkovicz |
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Tenoraler Ehrgeiz: Jonas Kaufmann im Alleingang
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Dass sich ein Sänger allein an die Soli
seines „Liedes von der Erde“ wagt, hätte sich Mahler nie träumen lassen. Zur
Genealogie einer ungewöhnlichen Symphonie. |
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Seine Verehrer werden vor jedem Auftritt nervös.
Diesmal aber steigt das Erwartungsbarometer auf ein selbst bei diesem Tenor
ungewohntes Niveau: Jonas Kaufmann singt im Konzert der Wiener
Philharmoniker unter Jonathan Nott heute, Dienstagabend, im Musikverein
Mahlers „Lied von der Erde“. Im Alleingang!
„Eine Symphonie für eine
Tenor- und eine Alt- (oder Bariton-)Stimme und Orchester nach Hans Bethges
,Die chinesische Flöte‘“ steht etwas umständlich auf dem Titelblatt. Viel
schlichter lautete die ursprüngliche Nomenklatur: „9. Symphonie“. Der pure
Aberglaube – Beethoven und Bruckner waren nicht über diese Nummer
hinausgekommen – hat Mahler davon abgehalten, die Nummerierung
beizubehalten.
Der virtuelle Bannfluch hat den Komponisten dennoch
eingeholt. Die offizielle Neunte wurde tatsächlich seine letzte vollendete
Symphonie – und schließt mit einem bewegenden Abschiedsgesang. Doch schon
der letzte Satz des „Liedes von der Erde“ – er dauert allein so lang wie die
fünf vorhergehenden zusammengenommen – heißt „Der Abschied“ und verweht als
eine der bewegendsten Kompositionen Mahlers in einem ätherisch schönen
Klangnirvana.
Wenn Jonas Kaufmann nun die gesamte Symphonie im
Alleingang bewältigen möchte, dann ist das schon wegen der Länge der Aufgabe
außerordentlich: Etwas über eine Stunde dauert das „Lied von der Erde“ – das
quasi ohne Pause, nur durch ein paar Orchester-Ritornelle unterbrochen,
durchzustehen ist eine athletische Aufgabe.
Noch bemerkenswerter ist
aber die vokaltechnische Komponente, nicht nur wegen der ständig wechselnden
Tenor- und Baritonlage. Die Musik ruft auch nach höchst unterschiedlichen
Stimmcharakteren. Da sind die lyrischen, nur verhalten aufrauschenden
Gesänge vom „Einsamen im Herbst“ und „Von der Schönheit“, die nebst dem
schon erwähnten „Abschied“ der tiefen Stimme zugedacht sind. Da ist als
Nummer drei der Partitur das Tenorlied „Von der Schönheit“, das gut zu
diesen introvertierteren Stücken passt.
Karajan brauchte
einst zwei Tenöre
Doch gleich am Beginn der Symphonie steht
das heldische „Trinklied vom Jammer der Erde“, dem sich noch das
zynisch-lässige „Der Trunkene im Frühling“ hinzugesellt. Es war kein Zufall,
dass ein Dirigent wie Herbert von Karajan einmal entschied, er brauche für
„Das Lied von der Erde“ nicht zwei, sondern gar drei Solisten: In Berlin
standen 1970 neben Christa Ludwig noch Ludovic Spiess – sozusagen als Mann
fürs Grobe – und der zartstimmige Horst R. Laubenthal auf dem Podium der
Philharmonie. Wozu das gut gewesen sein soll? Wer die Aufführungsgeschichte
des Werks verfolgt, stößt auf die bis heute unerreichte Londoner Aufnahme
unter Otto Klemperer, in der die unvergleichliche Christa Ludwig sich die
Symphonie mit dem ebenso unvergleichlichen Gestalter Fritz Wunderlich teilt;
allein, als Karajan im Mahler-Jahr 1960 „Das Lied von der Erde“ im
Musikverein dirigierte, wusste der „Presse“-Rezensent zu berichten, dass die
Orchesterwogen über der Edelstimme im ersten „Trinklied“ unbarmherzig
zusammenschlugen. Im Plattenstudio herrschen andere Gesetze.
Allerdings absolvierte auch Wunderlich an dem bewussten Tag einen
Mahler-Marathon wie morgen Abend Jonas Kaufmann: Er sang zwar nur die drei
Tenorlieder, war zur Feier des Komponistengeburtstags aber am selben Abend
auch als Solist in der Achten Symphonie zu hören.
Auch das, wie der
morgige Abend, ein Eintrag im imaginären Buch der Rekorde der musikalischen
Interpretationsgeschichte. Was finden wir, wenn wir dort nachschlagen?
Kräfteraubende Kuriosa wie den Auftritt von Gwyneth Jones im Zürcher
Opernhaus, die wegen plötzlicher Erkrankung ihrer Kollegin zwei
Monsterpartien, die Kaiserin und die Färberin in Richard Strauss' „Frau ohne
Schatten“ am gleichen Abend sang! Oder Lorin Maazels Beethovenmarathon, alle
neun Symphonien an einem Tag – in London oder Pittsburg Ende der
Achtzigerjahre zu erleben. Die Sache mit der Bilokation ist freilich noch
nicht ganz gelöst: Sir Georg Solti träumte davon, ein und dasselbe
Konzertprogramm in London und Chicago präzis ab 19.30 zu dirigieren – am
selben Kalendertag. Als die Concorde noch flog, wäre sich das ausgegangen.
Es wurde nie realisiert.
Bilokation mit der Wiener
Straßenbahn
Nur, apropos beliebter Tenor, Plácido Domingo
sang am selben Abend in zwei Wiener Häusern: Der damalige Opernchef Eberhard
Waechter chauffierte den Sänger nach der Aufführung von Puccinis „Tabarro“
in der Volksoper in einem Straßenbahn-Oldtimer zur Staatsoper, wo nach der
Pause der „Bajazzo“ auf dem Programm stand.
Jetzt kommt es im Fall
Jonas Kaufmanns vielleicht nur noch darauf an, ob Robert oder Dominique
Meyer die Lenkberechtigung als Wiener Bim-Fahrer erwerben . . . |
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