Die Welt, 23.01.15
Von Manuel Brug
 
Vorstoß in die absolute Königklasse
Ein wahrlich intelligenter Tenor: Auf dem Höhepunkt seiner Karriere kann Jonas Kaufmann keiner. Der deutsche Klassikstar erobert im Monatsabstand die Glanzpartien von di Stefano, Domingo & Co.

Auch er in Arkadien. Oder so ähnlich. Nun ist bei einem Terminplan, der bei den großen und dementsprechend viel gefragten Klassikkünstlern auf mindestens fünf Jahre voraus reicht, auch manches Zufall. Aber mit einer ansehnlichen Portion Absicht. Und so hat es doch seinen tieferen Sinn, dass sich Jonas Kaufmann, der deutsche Tenorstar, nach dem sich gegenwärtig nicht nur die Opernwelt verzehrt, diese Monate auf einer schon länger andauernden Italienreise durch die berühmtesten Sangestempel unterwegs ist.

Im Jahr 2013 hat der 1969 geborene Münchner, dessen gebändigtem Wuschellockenkopf und dem oft aufgelegten Dreitagebart die ersten silbergrauen Reifspuren allerbestens stehen, gleich drei bedeutende italienische Partien seinem Rollenverzeichnis hinzugefügt. Und das ist ja sowieso schon exzeptionell bunt, reicht von Monteverdi bis Penderecki, balanciert Mozart, Verdi, Puccini, Bizet, Massenet, Wagner aus, schließt Konzert, Lied und inzwischen auch Operette mit ein. Im damaligen Sommer probierte er also an seinem Wieder-Wohnort München, wo – nach Zürich – das Nationaltheater ein ihn inzwischen gern genießendes Stammhaus geworden ist, seinen ersten sehnig-forschen Manrico in Verdis "Troubadour" aus; wenn auch in der Premiere noch ohne hohes Stretta-C.

Im Herbst folgte an der Wiener Staatsoper ein kerlig-düsterer Räuber Dick Johnson in Puccinis gerne unterschätztem Westernmärchen "Das Mädchen aus dem Goldenen Westen". Im Winter schließlich, und das war vielleicht seine beste der drei Premieren, kam der gefürchtete, weil heldisch-gleißende, doch auch verletzliche Alvaro in Verdis sinistrer "Macht des Schicksals"-Saga, ungekürzt und wieder in München.

Rollendebüts vom Stimmbandstapel

2014 war ein wenig italienische Diät angesagt, da kam nur Puccinis lyrisch-schwärmerischer, aber nicht ungefährlicher Des Grieux in "Manon Lescaut" hinzu, erst an der Covent Garden Opera in London, dann in München. 2015 aber lässt Jonas Kaufmann nun die Rollendebüts im schwersten italienischen Fach vom Stimmbandstapel. Eben hat er sich in London unter Beifallswogen Umberto Giordanos Revolutionspoeten "Andrea Chénier" mit Antonio Pappano erobert. Ende Februar gibt er in Rom erstmals und zunächst nur konzertant (das szenische Debüt folgt später an einem deutschen Haus) den zuvor dort für CD eingespielten Radamès in "Aida".

Der ist nicht nur wegen des sonst kaum zu hörenden Diminuendos auf dem hohen B am Ende seiner Auftrittsarie respektiert. Wieder stehen Antonio Pappano (mit dem er auch schon den Pinkerton in Puccinis "Madama Butterfly" aufgenommen, aber noch nicht auf der Bühne verkörpert hat) und Anja Harteros, seine Traum-Elisabetta in Verdis "Don Carlo", an Kaufmanns Seite.

Und Ende März wagt der Tenorissimo, was sonst kaum einer je und noch dazu als Debüt an einem Abend gesungen hat: Mit Christian Thielemann bei den Salzburger Osterfestspielen Turiddu und Canio in Mascagnis/Leoncavallos unzertrennlichen Zwillingseinaktern "Cavalleria Rusticana und "Der Bajazzo". Weil das (hoffentlich) so schön wird, folgt die Wiederholung an der Mailänder Scala im Frühsommer. Und für 2017 ist den Fans bereits – Krönung jeder italienischen Tenorlaufbahn – Verdis "Otello" in London versprochen. Mehr geht nicht mehr.

Ein Duett in der Helene-Fischer-Show

Warum diese eindrückliche Ansammlung von Daten und Rollen? Um klar zu machen: Kaufmann kann gegenwärtig in der Klassik keiner. Und nicht nur dort. Sein Marktwert und sein Bekanntheitsgrad sind inzwischen so weit gestiegen, dass er in der Helene-Fischer-Show mit der singenden Deutschen Nummer Eins im Duett Benatzkys "Es muss was Wunderbares sein" schmachtet, dass sein 2010 erschienenes Interviewbuch "Meinen die wirklich mich?" erweitert und aktualisiert, mit erwachsenerem Cover und einfach nur dem Titel "Jonas Kaufmann" neu aufgelegt wird. Gleichzeitig startet er im April/Mai eine europaweite Operettentournee durch elf der größten Klassiksäle, die seine höchst erfolgreiche CD "Du bist die Welt für mich" samt DVD flankiert. Ende Juni gibt er ein Open-Air-Konzert mit Anna Netrebko und Dmitri Hvorostovsky in München.

Obwohl er gegenwärtig Richard Wagners Werke ein wenig außen vor lässt, einen stimmlich so guten, ähnlich rollenflexiblen, regelmäßig an den sechs großen Opernweltbühnen, zudem in Bayreuth und Salzburg bejubelten deutschen Sänger hat es vor ihm noch nie gegeben. Vor allem keinen, der aktuell dabei ist, allen großen Italienern, Spaniern, Mexikanern, Argentiniern von Caruso und Gigli bis di Stefano, del Monaco, Corelli, Bergonzi, Domingo, Carreras, Pavarotti, Cura, Alvarez die Tenorstirn zu bieten. Gerade mit deren italienischem Rollenspektrum bewegt sich Jonas Kaufmann nunmehr in der absoluten Königsklasse. Irgendwann noch ein Tannhäuser (Tristan und Siegfried wohl eher nicht mehr …) und Saint-Saens' Samson (denn auch Offenbachs Hoffmann ist bereits vertragsfix) – und er hat alles erreicht, was sich ein jugendlich-dramatischer Tenor nur wünschen kann.

Und das nicht als gieriger Rollenfresser oder schneller Gagenkassierer. Sondern – wer hat schon mal an der Met einen solchen Parsifal erlebt, der binnen Jahresfrist als perfekter Massenet-Werther wiederkehrt und dazu noch in der ausverkauften Carnegie Hall Schuberts "Winterreise" singt? – auf sehr besonderem künstlerischem Niveau. So wie eben in London neuerlich und großartig zu erleben.

Ein richtig saftiger Opernschinken

Der 1896 uraufgeführte "Andrea Chénier" ist, obwohl nur zwei Stunden kompakt, ein richtig saftiger Schinken. Große Geschichtstableaus mit wuselndem Volk und vielen knapp, aber prägnant aus dem kurzatmigen Verismo-Melodiegeflecht herausleuchtenden Cameo-Auftritten. Die freilich zugunsten der tragisch-kitschig auflodernden Liebesgeschichte zwischen dem aufmüpfigen und deshalb zum Tod verurteilten André und der verfolgten Adeligen Madeleine immer mehr verblassen. Und trotz ihrer "Wunschkonzert"-kompatiblen Arienhits, dem Callas-Favorit "La mamma morta" und dem trotzig-enttäuschten Monolog "Nemico della patria", bleiben Maddalena (hier: die ehrlich-engagierte, aber vokal mit müdem Sopran enttäuschend blasse Eva-Maria Westbroek) und Andreas Proletatrierbaritonrivale Gérard (der sich steigernde, geradlinige Zeljko Lucic) immer in der zweiten Reihe.

Umberto Giordano hat hier nämlich eine einzigartige Startenoroper geschrieben, und Jonas Kaufmann erfühlt und erfüllt sie vom ersten, wie improvisierten Monolog "Un dì all'azzurro spazio", wo die Stimme wie tastend einsteigt, fließend an Fülle und Kraft gewinnt, der dekadenten Adelsgesellschaft wütend Kontra gibt, bis zum traumschön akzentuierten, dunkel timbrierten und trotzdem wie von innen leuchtenden, das hingerissene Publikum in Bann ziehenden und deshalb wirklich poetischen Arioso "Come un bel dí di Maggio". Das gipfelt im leidenschaftlich, doch immer vokal die Form wahrenden, nie vulgär ausfransenden Schlussduett "Vicino a te" vor dem effektvoll platzierten Leiterwagen zum Schafott.

Das Royal Opera House, wo Kaufmann seine achte Partie seit 2004 verkörpert, hat ihm diesen Sieg leicht gemacht. Antonio Pappano breitet generös einen feinartikulierten, nie plüschigen Klangteppich aus. Und David McVicar, längst der Otto Schenk des 21. Jahrhunderts, inszeniert in Ancien-Régime-Pappkulissen ein sich niemals infrage stellendes Opernspektakel in historisch akkuraten, aber banalen Kostümen. Einzige Regieidee: Am Anfang werden viele Kerzen in einem Rokoko-Salon angezündet, der den Möbelschätzen der Londoner Wallace Collection Tribut zu zollen scheint. Am Ende, im Gefängnis, ist es dann nur noch ein einziges Licht, das mit dem Verlöschen der Leben der Protagonisten dunkel wird.

Eine Ästhetik wie bei "Les Misérables"

Es passt also, dass schon der mit Kaufmann-Konterfeis geschmückte Londoner Opernshop und auch das Trikoloren-Plakat schamlos auf eine "Les Misérables"-Wiedererkennungsästhetik zählen. Das ist ganz große Barrikaden-Oper. Nicht mehr und nicht weniger. Mit einem wirklichen Glanzpunkt in der Mitte. Der nicht nur die Waden für die Culotte besitzt. Der erst in blauen, dann schwarzen Röcken bella figura macht. Der sich unaufdringlich ins Zentrum zu spielen versteht. Der Charisma und Stimmschönheit hat, um seine Stimmungen und Gefühle stetig zu variieren. Dessen Stimme fesselt und fokussiert, der das ganze Publikum auf sich konzentriert, ohne jemals zum Rampenrenner zu werden.

Das Schönste an Kaufmann, was immer wieder von Neuem fasziniert, und damit ist er auch allen seinen illustren Vokalvorgängern weit überlegen, ist seine darstellerische Variabilität. Zusammen mit seinen so bewusst wie intuitiv eingesetzten Vokalraffinessen, etwa dem Abdunkeln der Stimme, dem sanft im Piano Versinken, der guten Diktion und dem kontrollierten Atem entwickelt er seine Opernfiguren mit einer nachdrücklichen, sehr modernen Intensität. Die berührt, bannt, ja, und verzaubert. Der Künstler als vollendetes Medium.

Andere mögen lauter, protziger, sonnig strahlender, im herkömmlichen Sinn "italienischer" gesungen haben. Aber das ist eben endgültig nicht mehr der dumme Tenor, der eitle Stimmbesitzer, der lachhafte Macho aus der Anekdotenhistorie der Oper. Das ist ein Darsteller auf Augenhöhe mit Film- oder Theaterschauspielern. Der zudem über ein weiteres, vokales Instrumentarium verfügt, an welches diese nie heranreichen. Deshalb wird dieser "Andrea Chénier", der am 29. Januar weltweit live in den Kinos zu sehen ist, allein sicher auch wegen Jonas Kaufmann zu einem cineastischen HD-Ereignis werden.

Jenseits der Oper

Hälfte des Lebens. Jonas Kaufmann fährt jetzt, 45-jährig, massiv die Ernte einer über zwei Jahrzehnte reichenden, seit einer Dekade global gefeierten Karriere ein. Fotositzungen für Glamour-Illustrierte sind jetzt angesagt, er wirbt für Kleider, Autos, sogar als Luxusuhren-Testimonial steht er in einer noblen Reihe mit Domingo, Kiri Te Kanawa und Cecilia Bartoli. Er ist dabei, die abgeschlossene Welt der Oper zu verlassen. Sicher nicht nur, weil er Geld braucht, da er sich auch privat neu orientiert hat.

Die Ehe mit der deutschen Sängerin Margarete Joswig, Mutter seiner drei Kinder, ist seit Mitte 2014, auch offiziell per Webseite verkündet, vorbei. Während diese eben ihre zugunsten der Familie eingefrorene Karriere wieder aufzutauen versucht und im millionenteuren Haus am Ammersee geblieben ist, hat Kaufmann mit der Regieassistentin seines Scala-"Lohengrin" von 2012 einen neuen Lebens- und Liebesabschnitt begonnen. In Italien freilich hat man ihn – das spricht für seinen Status auch in der klassikresistenten Welt – jüngst sogar eine Affäre mit Madonna angedichtet.

Mindestens zehn Jahre wird er noch, wenn er ähnlich emotional ausgeglichen bleibt und seinen harten Terminplan gut ausbalanciert, auf diesem Niveau zu genießen sein. Glücklich die, welche die Chance haben, König Kaufmann auf diesem, seinem legitimen Tenorthron zu erleben.















 
 
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