Neue Luzerner Zeitung, 24.10.2012
FRITZ SCHAUB
 
Aufstieg eines Lückenbüssers
Auch Starsänger fallen nicht vom Himmel. Der Weg dorthin ist oft mit Enttäuschungen gepflastert, wie das Beispiel Jonas Kaufmann zeigt.
 
Meiner ersten wirklichen Begegnung mit Jonas Kaufmann ging eine Enttäuschung voraus. Superstar Pläcido Domingo, der im April 2006 in einer Galavorstellung im Opernhaus Zürich den Parsifal hätte singen sollen, sagte kurzfristig ab, weil der damals 65-Jährige die Partie endgültig aus seinem Repertoire gestrichen hatte.

Für ihn kam der deutsche Sänger Jonas Kaufmann, der kaum zwei Monate zuvor an der New Yorker Met mit seinem Alfredo («La Traviata») an der Seite Angela Gheorghius den Durchbruch geschafft hatte. Aber noch nie hatte der damals 37-jährige lyrische Tenor, der eine Zeit lang dem Zürcher Opernensemble angehörte, eine dramatische Wagner-Partie von diesem Kaliber gesungen. Ob dies gut gehen konnte?

Überzeugendes Debüt
Und ob es gut ging! Wer Zeuge dieses Wagner-Debüts wurde, für den bestand kein Zweifel: Hier war ein intelligenter Sänger mit ungewöhnlichem Stimmpotenzial, der seinen baritonal grundierten Tenor frei strömen liess, wie die NZZ schrieb, und erst noch gut aussah, auch darstellerisch überzeugte.

Kaufmann sang den Parsifal in Zürich nicht mehr, brillierte dort jedoch in weiteren anspruchsvollen Rollen, etwa als Don Jose, Don Carlo oder als Cavaradossi. Bald sang er Lohengrin und Siegmund, aber nicht in Zürich, sondern in München, Bayreuth und abermals an der New Yorker Met. Denn nun standen ihm endgültig die Tore der grossen Weltbühnen offen. Im kommenden Jahr tritt er sowohl an der Met (am 2. März 2013 Direktübertragung im Filmtheater des Verkehrshauses) als auch in der Wiener Staatsoper als Parsifal auf.

Kein Shootingstar
Auch Kaufmann war wie andere berühmte Kollegen nicht gefeit gegen Rückschläge. Hartnäckige Infektionen zwangen ihn sporadisch zu Absagen, die im zu Ende gehenden Jahr fast beängstigendes Ausmass annahmen. Aber seine begeisternden Auftritte an den jüngsten Salzburger Festspielen (als Don Jose und Bacchus) und am Lucerne Festival (mit der Tenorpartie im Verdi-Requiem) zeigten zum Glück, dass er wieder ganz «der Alte» ist.

Die längere Auszeit war nicht stimmlich bedingt. Eine Stimmkrise hat er hinter sich, wie man aus seiner Biografie («Meinen die wirklich mich?») weiss. Sie befiel ihn bereits bei seinem ersten Festengagement in Saarbrücken. Der rettende Anker wurde - eben das Opernhaus Zürich, in dessen Ensemble er sich ruhig weiterentwickeln konnte. Ein Beispiel dafür, wie ein festes Ensemble einen Sänger aufbauen kann, und kein Einzelfall, denn auch der gleichaltrige Pole Piotr Beczala reifte unter den Fittichen des ehemaligen Pereira-Ensembles schrittweise zu einem der begehrtesten lyrischen Tenöre heran.

Präsent auf Bild- und Tonträgern
Es verwundert nicht, dass Kaufmann auch auf Bild- und Tonträgern immer stärker präsent ist, wobei es sich keineswegs um Inszenierungen handelt, die um ihn, den Star, herum arrangiert wurden. Das gilt vorab für die soeben erschienene, im Jahre 2010 aufgezeichnete Aufnahme von Engelbert Humperdincks leider viel zu wenig gespieltem Kunstmärchen «Königskinder». Die Aufnahme lohnt sich nicht nur wegen des vielseitigen Münchner Sängers, der hier die lyrischen Qualitäten, die er immer wieder auch als Liedersänger beweist, in besonderem Masse einbringen kann, sondern wegen des sorgfältig zusammengesetzten Ensembles, der durchdachten Inszenierung und vor allem wegen der wunderbar farbenreichen Musik (Leitung: Ingo Metzmacher) insgesamt.

«Carmen» mit Simon Rattle
Hochkarätig ist auch das Ensemble um Kaufmann in der neuen, von Sir Simon Rattle mit den Berliner Philharmonikern ausnehmend spritzig und nuancenreich dirigierten «Carmen», mit der nach langem wieder eine echte Studioproduktion zu Stande kam, nachdem es aus Kostengründen üblich geworden ist, einfach Repertoire-Aufführungen auf DVD abzufilmen. Zu diesen gehören zwei «Tosca»-Aufführungen aus den Opernhäusern Zürich und Covent Garden, wobei aus dem Londoner Opernhaus auch je eine «Adriana Lecouvreur»- und «Carmen»- Aufnahme in Bild und Ton kommen. Jonas Kaufmanns Markenzeichen ist zwar sein überirdisch schönes, wie in Samt gehülltes Piano, aber in der Mittellage und in der Höhe entfaltet seine Stimme eine derartige männliche Kraft und Glut, dass sie auch fürs italienische Fach hervorragend geeignet ist. Wobei von diesen Qualitäten gerade auch seine Darbietungen in Wagner-Opern profitieren, zu denen es ihn mehr und mehr hinzieht.






 
 
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