GQ, Dezember 2009
Stefan Krücken, Fotos Julian Broad
Jonas Kaufmann - Der Klangkörper
Wenn der deutsche Tenor die großen Bühnen der Welt betritt verschlägt es den Kritikern wie dem Publikum den Atem. Und allen Frauen sowieso
Er geht in den Nachmittag, vorbei an drei Gefolterten, die auf der Bühne angezündet werden. Die Probe ist zu Ende, und Jonas Kaufmann nimmt eine Treppe Richtung Garderobe, biegt erst rechts ab, dann links, er marschiert zielstrebig durch die Gänge der Royal Opera, des Hauses Ihrer Majestät in London, ein Labyrinth, in dem sich mancher Besucher verläuft. Nur noch wenige Tage bis zur großen Premiere. Musiker eilen über die Flure, Techniker, Kostümbildner, und in vielen Gesichtern ist Nervosität zu erkennen. Die Anspannung, nach der Show von den Kritikern aufgestellt zu werden wie die drei Metallopfer aus der Requisite.

Kaufmann, 40, scheint das alles nicht zu betreffen. Dabei gibt der Tenor Don Carlo, den Star, an dem alles hängt: Er soll nicht nur richtig singen, sondern im richtigen Moment im richtigen Scheinwerferlicht stehen, richtig seine Bühnenliebe anschmachten, er muss sogar richtig mit dem Schwert kämpfen. Aber er wirkt unaufgeregt. Wer ihn aus den Augen verliert, braucht nur hinzuhören — bis er wieder lacht, sein lautes, polterndes, kaskadenartiges Kaufmann-Lachen.
„Lockerheit ist wichtig in meinem Beruf“, sagt er, als er kurze Zeit später im „Rules“ einkehrt, dem ältesten Restaurant der Stadt, Covent Garden. An den Wänden sind Hirschgeweihe festgeschraubt, Gemälde von Pferden und Landgütern, alles wirklich britisch hier, seit 1798. Kaufmann widersteht dem Gedanken, ein Glas Rotwein zu bestellen. So locker soll es dann doch nicht zugehen.

„Aussehen und Lassigkeit eines Rockstars“ bescheinigte ihm das „New York Magazine“, der „Guardian“ nennt ihn den „vermutlich größten deutschen Tenor der letzten Jahrhunderthälfte“ und die „Sunday Times“ „das Pin-up der Oper“. Tritt er mit Anna Netrebko auf, provoziert dies Vergleiche mit dem Duo Brad Pitt und Angelina Jolie. Journalistinnen schreiben Dinge über ihn, die männlichen Kollegen sofort den Vorwurf des Chauvinismus einbrächten: Eine möchte ihm in „die ungeheizteste Dachstube nachsteigen“, und ein Boulevardblatt säftelte in der Schlagzeile, er habe seine Frau ins Bett gesungen. Kaufmann, ein groß gewachsener Mann mit schwarzer Matte, angedeutetem Dreitagebart und diesem Lachen, das die Prüfung von Zahn 16 hinten im Oberkiefer erlaubt, weckt offenbar nicht nur musikalische Sehnsüchte. Er ist eine Art LucaToni mit dem Sangesorgan von Luciano Pavarotti.

Auch die Lobeshymnen, die ihm im Chor entgegenschallen, beeindrucken Kaufmann nicht sonderlich. „Man kann einen auf Händen tragen“, meint er, „aber zu Hause holt einen die Realität schnell wieder ein.“ Seine drei Kinder geben ihm Bodenhaftung für sein Flugzeugleben zwischen Chicago und Moskau. Sie leben in der Nähe von Zürich. „Meine Familie ist meine Erdung“, erklärt Kaufmann, „und man nimmt manch andere Dinge nicht mehr so wichtig. Ich liebe meinen Beruf, aber wenn er das Einzige in meinem Leben wäre, liefe etwas schief.“

Jonas Kaufmanns Karriere nahm diverse Abzweigungen, die nicht geplant waren, und als er in der Mailänder Scala ankam und die Besucher sich euphorisch von ihren Plätzen erhoben, dachte er erstaunt: „Irgendetwas stimmt hier nicht.“

Alles begann auf einem braunen Sofa aus Leder, im fünften Stock eines Wohnblocks im bürgerlichen Münchener Stadtteil Bogenhausen. Sonntags durften sich der junge Jonas und seine Schwester eine Oper aus der Schrankwand wünschen; er sang im Chor der Grundschule, gab vor dem Rathaus Weihnachtslieder für Passanten zum Besten und wählte, als es aufs Abitur zuging, das Leistungsfach Musik. So weit, so normal.

Ein fader Abschnitt drohte, als er den Rat der Eltern beherzigte, etwas „G‘scheit‘s“ zu lernen, und begann, Mathematik zu studieren. Kaufmann hockte über Differenzialgleichungen und der „Analysis einer Veränderlichen“ und spürte nach einigen Semestern, dass er nicht die richtige Lösung gefunden hatte. Doch sollte er das Wagnis eingehen? Riskieren, dass ihn jede Erkältung arbeitsunfähig machte? Ja, fand er, und nahm im Sommer 1989 die Ausbildung zum Opern- und Konzert-Sänger in München auf.

Nun wäre die Frage interessant, wie weit er wohl als Leptosom mit Haarausfall und dem Namen „Horst Klumpfuß“ gekommen wäre, aber auch als athletischer Lockenkopf startete die Karriere ziemlich zögerlich. Eine Minipartie, in Fachkreisen „Wurzen“ genannt, ein Engagement in der bayerischen Provinz, in Regensburg, das war‘s, seine Gagen bezog er als Chauffeur eines Fahrservice — wofür er sogar seine Mähne opferte. Den entscheidenden Karriereschritt machte Kaufmann nach Abschluss des Studiums am Saarländischen Staatstheater, das nicht gerade als Akademie für Ausnahmesänger gilt. Und zwar mit einem „Nein“, denn er lehnte es ab, seinen Vertrag als Ensemblemitglied zu verlängern und täglich bis zu zehn Stunden lang Saarbrücken zu beschallen.

„Ich spürte, dass meine Stimme unter den Proben und der Aufführung litt“, erzählt Kaufmann, während der Kellner im „Rules“ die Suppe serviert. Die anderen Gäste, allesamt ältere Herrschaften in altmodischen Anzügen, sehen gelegentlich etwas befremdet herüber, wenn der Mann in Poloshirt und brauner Lederjacke einen seiner Räuberhauptmannlacher durchs Lokal schickt. „Ein Sänger darf sich nicht überfordern, man kann das mit Leistungssportlern vergleichen.“ Worauf es ankomme? Es gelte, mit einer „geraden Luftsäule“ zu singen, den Kehlkopf und das Zwerchfell „unten zu halten“ und vor allem locker zu bleiben. Ein gelöster Rumpf mit einer entkrampften Zwischenrippenmuskulatur schwinge besser, was mehr Volumen ermögliche. Ein Tenor muss nicht korpulent sein, aber sein Klangkörper unbedingt tiefenentspannt.

Um auch das vegetative, das nicht direkt steuerbare Nervensystem zu beeinflussen, denkt Kaufmann an „schöne Dinge“ — welche? „Bleibt mein Geheimnis“ —‚ während ihm Tausende im Opernhaus und noch viel mehr Menschen im Radio zuhören. Lampenfieber kenne er nicht, Nervosität empfinde er nie, sagt er. Kollegen berichten, er halte hinter der Bühne, Minuten vor der wichtigsten Premiere, ein Schwätzchen, um sich dann zu entschuldigen: „Ich muss mal eben da raus.“ Woher kommt solche Selbstsicherheit? Kaufmann überlegt, dann antwortet er: „Aus der Erfahrung, dass es funktioniert, aus positiven Erlebnissen, aus dem angenehmen Klang, den ich selbst wahrnehme. Auf der Bühne fühle ich mich beinahe unverwundbar.“

Mit dem Selbstbewusstsein eines Siegfried und seiner Stimme, die er sorgsam einsetzte, um sein Repertoire zu erweitern (es reicht heute von Mozart bis Wagners „Lohengrin“), startete Kaufmann seine Weltkarriere: Staatsoper Stuttgart, Opernhaus Zürich, Lyric Opern Chicago; dann, unter anderem, Royal Opera London, Salzburger Festspiele, Mailänder Scala; und schließlich, im Februar 2006, der Höhepunkt in der New Yorker „Met“, als Alfredo in Verdis „La Traviata“. Kaufmann wählte seine Partien wie ein „g‘scheiter“ Mathematiker. Stets bekam er das richtige Engagement im richtigen Moment, ohne sich in der Hektik des Lebens zwischen Hotel, Flughäfen und all den menschlichen Lautsprechern und Scheinwerfern zu verlieren. Fünf Jahre im Vorhinein verplanen die bedeutenden Bühnen ihre Aufführungen - zu wissen, was man in fünf Jahren perfekt darbieten kann, gehört zur Kunst eines Startenors.

Nun ist vor allem der Beruf Opernsänger mit dem Klischee der schwierigen Diva belegt. Von der rumänischen Sopranistin Angela Gheorghiu zum Beispiel, in Fachkreisen „Draculette“ genannt, haben Zeitungen wundervolle Szenen kolportiert, etwa den Streit um eine blonde Perücke, die sie einmal in Japan aus New York einfliegen lassen wollte - um dann nicht aufzutreten. Doch selbst in ihrer Anwesenheit scheint Kaufmann, der mit ihr in der New Yorker „Met“ sang, entspannt zu bleiben (im Interview mit dem „Spiegel“ nannte sie ihn „fantastisch“). Unter uns, Herr Kaufmann: Wer in der Branche ist denn besonders anstrengend? „Zum Ehrenkodex gehört es, keine Namen zu nennen.

Aber halt, sagt er dann, es störe ihn sehr, wenn jemand es an Respekt für die Mitarbeiter in Kostüm, Maske oder Nebenrollen vermissen lasse. Sänger, die chronisch viel zu spät zu wichtigen Proben erscheinen und sich nicht entschuldigen, kann er ebenfalls nicht leiden, und Kaufmann hat beobachtet, wie verspannt manche am Arbeitsplatz sind. „Für einige ist jeder Auftritt ein Martyrium. Sie haben einen Tunnelblick und bekämpfen auf der Bühne vor allem ihre Panik“, wundert sich Kaufmann. Dabei gilt der Dreisatz: je ruhiger der Tenor, desto niedriger der Puls, desto länger der Atem. „Spontane Sachen sind gar nicht möglich, wenn man dermaßen unter Stress steht. Dann singt man wie ein Papagei.“

Um in Form zu bleiben, betreibt er regelmäßig Yoga, joggt gelegentlich und geht ausdauernd spazieren. Auf dem Weg zur Probe verzichtet er aufs Taxi, schlendert an der Themse entlang durch London und spielt dabei gedanklich seine Partien durch. Vor jeder Einlage wärmt sich Kaufmann auf, dehnt sich, streckt seinen Körper wie ein Läufer vor dem Wettkampf, bevor er sich einsingt. „Voll und warm, reich an rötlichen und tiefdunklen Tönen“, so beschreibt sie ein Kritiker des Londoner „Telegraph“, die Experten sind beeindruckt von der Vielseitigkeit: Kaufmann kommt bis zum Es, eineinhalb Töne über dem hohen C, und in der Tiefe kann er es mit manchem Bass aufnehmen. Damit seine Stimmbänder nicht austrocknen und beschädigt werden — der Albtraum jedes Sängers —‚trinkt er während einer Aufführung mehrere Liter Wasser.

Dass ein berühmter Kollege, der Mexikaner Rolando Villazon, vor Kurzem vor den Ohren der Welt einen solchen Albtraum durchlitt, der beinahe das Karriereende bedeutet hätte, kommentiert Kaufmann mitfühlend. Die Furcht vor einer Erkältung treibt ihn zwar immer noch um (ein Tenor bekommt seine Gage nur nach einer absolvierten Vorstellung ausbezahlt, früher brachte sie in manchen Häusern ein Geldbote in der Pause), doch inzwischen sieht er auch dies entspannter. Mit dem Gefühl, Angebote der bekanntesten Institutionen zu bekommen, mit der Gewissheit, heute als Botschafter jener Automarke aufzutreten, für die er sich einst als Fahrer verdingte. Sein Debüt „Romantic Arias“, das er 2008 auf den Markt brachte, gehörte zu den erfolgreichsten Klassikalben des Jahres, vergangenen Sommer erschien das zweite, „Sehnsucht“.

Welche Herausforderungen ihm noch blieben? „In der zweiten Hälfte meiner 40er würde ich gern den Othello singen und einige unangenehme Brocken von Wagner“, meint er, „darauf freue ich mich schon.“ Er ist eben nicht der Typ, der irgendwann in der Zeitung steht, weil er mit drei Prostituierten und einem halben Kilo Kokain erwischt wurde. Manchmal wünsche er sich, dass Oper moderner wäre, dass neue Komponisten und neue Stücke eine Chance bekämen, statt immer nur die jahrhundertealten Klassiker zu interpretieren. Was den Rummel um seine Person angeht, so hofft er, von der Gier der Öffentlichkeit nach Prominenz verschont zu werden. Genervt berichtet er von einem Wanderausflug mit der Familie, als ihm jemand immer wieder ein Fotohandy ins Gesicht hielt und abdrückte. „Da musste ich etwas lauter werden!“
Später Nachmittag, er erkundigt sich beim Ober nach der Uhrzeit und drängt dann zum Aufbruch. Heute Abend muss er zurück in die Royal Opera, zu einem Empfang vor der Premiere, und will vorher noch einen Spaziergang durch die Straßen von London machen. „Die Stimme ist der Spiegel der Seele“, hat er während des Gesprächs gesagt. Jonas Kaufmann will dafür sorgen, dass beides im Gleichklang bleibt, ganz „g‘scheit“.






 
 
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