Opernwelt, Februar 2011
Jörg Königsdorf
 
Chronik eines angekündigten Todes
 

Jonas Kaufmann als Werther aus der Bastille-Oper

 
Die trauen sich was in Paris: So altmodisch kommt der neue «Werther» der Bastille-Oper daher, dass man unwillkürlich Georges Thill und Ninon Vallin in diesem Pappmaché-Idyll erwartet. Tatsächlich dreht sich in Benoit Jacquots ursprünglich 2004 für Covent Garden entstandener Produktion alles um Werther und Charlotte - sogar die Kamera, die das verhinderte Paar von allen Seiten einfängt. Der Rest ist Konvention, was konkret heißt: keine ablenkenden Aktualisierungsversuche seitens der Regie und wenig Aufmerksamkeit für die übrigen Rollen. Routinierte Saufseligkeit bei den beiden Schluckspechten Schmidt und Johann; eine Sophie, die angestrengt den Backfisch spielen muss, den man ihr optisch längst nicht mehr abnimmt; und ein Albert, der nicht mehr sein darf als ein miesepetriger Widerling.

Dennoch lohnt die Produktion, weil die beiden Hauptdarsteller den ganzen Rest vergessen lassen: Jonas Kaufmann und Sophie Koch gelingt es - sicher auch dank Jacquots hier sehr konzentrierter Personenregie - Werther und Charlotte zu mitleidstauglichen Figuren zu formen. Gerade im Fall des Titelhelden ist das ja nicht selbstverständlich: Geht man Massenets Dichter mit dem Überdruck eines italienischen Opernhelden an (so wie es Carreras und Villazón getan haben), wird Werther schnell zur egomanischen Nervensäge. Mit französischer Noblesse à la Alfredo Kraus entwickelt er dagegen zu wenig Antriebskraft für die emotionale Langstrecke der vier großen Duette mit Charlotte. Kaufmann gelingt diese Gratwanderung. Sein Werther überzeugt als psychologische Zerrüttungsstudie, die jedoch nie durch außermusikalische Mittel forciert wird (Kaufmanns Eindunkeln vieler Passagen bleibt allerdings Geschmackssache). Die baritonale Grundierung gibt Kaufmanns Werther eine düstere Seite, die in Passagen wie «Un autre est son époux» überzeugend mit einer fast manischen Nervosität kontrastiert, dann aber immer wieder die Augenblicke hellsichtiger Klarheit hat. Eine Spannung, die in der geradezu visionär gesungenen Soloszene am Ende des zweiten Aktes den späteren Selbstmord schon als Ausweg aufscheinen lässt. Man begreift, dass dieser Mensch krank ist, ahnt aber auch, was aus ihm unter anderen Umständen hätte werden können.

Sophie Kochs Charlotte ist dagegen genau richtig, um das Mädchen an der Schwelle zur Frau zu verkörpern. Ihrem schlanken, schmucklosen Mezzo nimmt man eine Figur ab, die immer zur Pflichterfüllung erzogen wurde und nun erst in der Liebe zu Werther sich selbst entdeckt. Optisch dürfte die Französin ohnehin eine Idealbesetzung sein.

Der dritte große Gewinn der Produktion ist Michel Plasson: Am Pult des Bastille-Orchesters entlockt der Altmeister Massenets Partitur mit ruhiger Hand Wagner'sche Farben. Wenn im letzten Akt die Zeit fast stillzustehen scheint, klingt das wie das Liebesduett aus dem «Tristan». Nur etwas französischer.
 






 
 
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