Opernglas, November 2010
Brigitte Kempen
 
„Auch einmal die Sau rauslassen“
 

Jonas Kaufmann und der Spaß am Verismo: Brigitte Kempen fragte nach und lauschte seiner neuen CD.

Leiden und Leidenschaft heißt die Devise. Für Jonas Kaufmann gibt es auf seiner neuen Solo-CD „Verismo Arias" keine interpretatorischen Kompromisse. Der Tenor stürzt sich regelrecht mit schonungsloser Vehemenz in die Gefühlsausbrüche und das Seelenleben von Typen am Rande des Wahnsinns. Kaufmann hatte, wie er im persönlichen Gespräch verrät, bis zum Schluss noch mehrere Titel in der Auswahl gehabt, Verismo ohne Puccini lautete die Devise. „Ich konnte mich zunächst gar nicht entscheiden, aber jetzt bin ich sehr glücklich, weil die letztendlich ausgewählten Arien doch ordentliche Brocken sind. Ich habe das Programm mit Antonio Pappano in Rom aufgenommen. Wir hatten einen Heidenspaß dabei, solch mitreißende Musik zu spielen. Es war wirklich ein Fest! Wir haben uns fast jeden Abend ausgeschüttet vor Lachen, wenn wir die Sachen anschließend abgehört haben. Hier konnte man dem Affen so richtig Zucker geben, ohne über das Ziel hinausgeschossen zu sein. Ich bemühe mich immer sehr, im Rahmen zu bleiben, aber es macht gerade für einen Deutschen wirklich Spaß, auch einmal „die Sau raus zu lassen“', nicht zu brav zu agieren. Das war hier gut möglich." 

In der Tat, die ausgewählten Stücke haben es in sich. Das CD-Programm vermeidet Beliebigkeit, eher unbekannte Arien bestehen markant neben berühmten Meilensteinen. Da Puccinis Werke bewusst außen vor bleiben, vermittelt sich die Verismo-Stimmung ungeschminkt und in teilweise herbem Charme. Zu den Höhepunkten gehört explizit das Porträt von Mascagnis Turiddu aus der »Cavalleria«. Kaufmann genießt hier den Duft prall leichtsinniger Lebensfreude im „Viva il vino spumeggiante", winselt im „Mamma, quel vino e generoso" mit weinerlichem Entsetzen um Vergebung und wird in den letzten Tönen tatsächlich noch erwachsen - ein Macho-Charakter in sizilianisch schillernden Farben. 

Der Tenor bevorzugt zwar die Unmittelbarkeit der Bühne, konnte sich aber, wie er selbst beteuert, in diesem konkreten Fall sehr einfach in die jeweiligen Stimmungen und Emotionsballungen einfühlen: „Die Orchesterbegleitungen bei diesen Stücken sind so unglaublich energiegeladen und emotional, dass man sehr leicht hineingleitet. Es ist einfach packend, wenn man ein Stück aus »Pagliacci« macht; das reißt unmittelbar mit." Wie einen enthemmten Verzweiflungsschrei konzipiert denn Kaufmann auch dramatisch ausgereizt Canios unsterbliches „Vesti la giubba" - ohne tatsächlich zu schreien. Da reichen eine hart überzeichnete Aussprache der Konsonanten, eine gradlinig strömende Klangfülle und expressiv kurze Portamenti. 

Attacke, Ruhe oder Ekstase der Musik im Kontext zur jeweiligen Oper bestimmen die subtile Tonformung, die Kaufmann ausschließlich mit seinen unverkennbaren stimmlichen Markenzeichen gestaltet; einem baritonal gefärbten, kernig männlichen Timbre, einer heldischer gewordenen Strahlkraft und vor allem mit einer effektreich flexiblen, eigenwilligen Pianokultur. Problemlos weich zieht er Töne aus stählernem Forte in die zarte hohe Kopfstimme zurück, dynamische Registerwechsel gelingen ohne Brüche, das souveräne Mezzavoce dient nicht zum Schöngesang, sondern als Emotionsventil und vermittelt hoffende Innigkeit („Dai campi, dai prati" aus Boitos »Mefistofele«), fahle Depression (Lamento von Federico aus Cileas »L‘Arlesiana«) oder gebrochene blanke Trauer wie in Zandonais erschütterndem „Giulietta! Son io!" - Kaufmanns persönlichem Lieblingsstück in dieser Sammlung: „ich kannte das vorher gar nicht, eine echte Entdeckung für mich. Traumhaft schön!" Das Orchester der Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter der Leitung von Antonio Pappano trägt den Sänger hierbei auf Händen, powert mit Hingabe und bettet ihn zugleich auf Rosen - eine temperamentvoll beglückende Symbiose. 

Auf das noch fern geplante Debüt als Andrea Chenier zielen in mitreißender Romantik „Un di all'azzurro spazio" und „Come un bel di di maggio" und gemeinsam mit der bezaubernden Eva-Maria Westbroek wird das emotionsstarke Schlussduett von Chenier und Maddalena in Gänsehaut provozierendem Enthusiasmus mit herrlichem Schwelgen in ekstatischen Melodien zelebriert. Das wirkt - auch wenn Kaufmann hier stellenweise mit dem Kopf durch die Wand will. Im Gegensatz zu dieser Power nimmt das „Ombra di nube" von Licinio Refice fast eine Sonderstellung ein, schlicht und schwebend gesungen wie ein Kinderlied, mit Kern auf Linie in gefühlvoller Ruhe. Insgesamt ein individuell geprägter, ausdrucksstarker Sampler, kein immer lehrbuchmäßiger Verismo-Stil, aber eindeutig Kaufmanns bisher ehrlichste und authentischste Opernarien-CD.






 
 
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