kulturradio rbb, 26.8.2012
Matthias Käther
 
CD der Woche - Georges Bizet: "Carmen"
 
Georges Bizets Carmen gehört zu den beliebtesten und meistaufgenommenen Opern der Welt. Der ellenlangen Discographie mit großen Sängern und Dirigenten kann man nun eine weitere hinzufügen – Simon Rattle hat mit den Berliner Philharmonikern eine Carmen aufgenommen, in der Titelpartie seine Frau, die Mezzosopranistin Magdalena Kožená.

Für viele Beteiligten ist diese Produktion ein Marsch in ein unbekanntes Land. Kaum zu glauben, aber erst jetzt, in der Carmen, finden sich Berliner Philharmoniker und Simon Rattle zu einer ersten Opernproduktion zusammen. Und es ist Rattles erste Carmen-Produktion überhaupt, die hier auf CD dokumentiert wird! So ist es für Opernfreunde aufregend zu beobachten, wie sich der so sinfonisch denkende Rattle neugierig die exotische Welt der berühmten Oper erschließt.

Exotismen und Raffinessen
Moderne-Kenner Rattle spürt zunächst einmal instinktsicher den voraus weisenden Orchestersound des Meisterwerks auf – seine Carmen klingt wie eine Mischung aus Offenbach und Ravel – also eigentlich genau richtig. Bizet lernte einst beim Operettenerfinder Offenbach sein Handwerk – aber mit seinen Exotismen und Raffinessen sah er schon visionär über seine Ära hinaus. So sind wenige Klischees in der Aufnahme zu finden. Rattles Carmen ist kein Vamp und keine Neurotikerin, sondern eine ganz normale lebenshungrige junge Frau.

Das mag der Hörgewohnheit mancher Carmen-Fans zuwiderlaufen, aber ich empfinde die frei von Allüren auftretende Magdalena Kožená erfrischend – und sie passt auch besser zur Novelle von Prosper Mérimée, auf der die Oper basiert. Dort nämlich ist der eigentliche Bösewicht weder Escamillio noch Carmen, sondern der Soldat Don José. Und folgerichtig singt und spielt Startenor Jonas Kaufmann hier mal nicht die unglückliche Fliege, die von der fiesen Spinne Carmen ausgesaugt wird, sondern gibt einen erschreckend labilen Psychopathen.

Kaufmann zeigt hier neben großen stimmlichen Leistungen einen erstaunlichen Mut zur Hässlichkeit, zum Extrem, bleibt aber dank Rattles kluger Leitung immer ein gebrochener Held der französischen Oper und gerät nie zum verhinderten Verdi-Tenor.


Verneigung vor dem Komponisten
Auch in den kleineren Rollen setzt Rattle auf leichte, agile Stimmen. Die passen gut zum Genre der Opéra comique – für das Bizet Carmen komponierte. Genia Kühmeier als Josés fragile Jugendfreundin Micaëla wurde schon bei Rattles Liveaufführung in der Philharmonie, die der Studioaufnahme voranging, frenetisch bejubelt.

Die Idee, die später von fremder Hand hinzugefügte Musik komplett herauszuwerfen und nur echten, unverfälschten Bizet zu spielen, ist nicht neu. Sie gerät aber bei Simon Rattle und seinem Ensemble zu einer wirklichen Verneigung vor dem genialen Komponisten. Hier erlebt der Hörer die Oper Carmen so radikal und ungeschönt als das, was sie ist – ein Befreiungsschlag fürs moderne französische Musikdrama.
 
 






 
 
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